Nächste Ausfahrt Glück: Warum es junge Russen aufs Land zieht

Downshifting heißt das neuzeitliche Phänomen, wenn Großstädter das Leben auf der Überholspur hinterfragen und einen Gang zurückschalten. Auch in Russland. Herrschte nach dem Zerfall der Sowjetunion noch eine regelrechte Landflucht, suchen heute viele ihr Glück auf dem Land. Drei Ex-Städter erzählen, warum sie die Segel gestrichen haben und wie es ihnen in der neuen Heimat ergeht.

Jeden Tag ein Panorama: Jelena Besedina lebt mit ihrer Familie nun im Tscherskigebirge in Ostsibirien. / Foto: Privat.

Jelena Besedina, Tscherskigebirge

Am Vorabend meines 25. Geburtstages realisierte ich, dass ich mein bisheriges Leben im Hamsterrad geführt hatte: Haus, Arbeit, Wochenende. Es hatte sich eine Routine eingeschlichen. Ich wusste, dass ich handeln musste. Innerhalb von zwei Wochen hängte ich meinen Jobals Grafikdesignerin an den Nagel, packte meine sieben Sachen, und fuhr zu einem Bekannten, der in der tiefsten Provinz wohnt und Schlittenhunde züchtet. Das Dorf heißt Porogi und befindet sich im südlichen Ural. So verbrachte ich einige Monate in den Bergen und fand endlich Zeit, über mich und mein Umfeld nachzudenken. Zum ersten Mal konnte ich beobachten, wie der Schnee schmilzt und der Frühling die Bäume zum Blühen bringt. Ich war endlich wieder glücklich. Später kam mich ein Bekannter besuchen. Er bot mir an, mit ihm eine Expedition in den Fernen Osten zu unternehmen. Ich willigte ein. Die Vorbereitungen dauerten fast zwei Jahre. In dieser Zeit bekamen wir eine Tochter. Wir sind also zu dritt gen Osten aufgebrochen.

Marke Eigenbau: Jelena Besedina und ihr Mann haben in Ostsibirien sich ein Haus selbst gebaut. / Foto: Privat.

Wenn Menschen von unserem freigeistigen Leben erfahren, fragen sie häufig, wer uns finanziert. Man kann immer etwas Geld verdienen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Mein Mann schmiedet Messer, die er an Jäger verkauft. Ich male, stricke und kümmere mich um unsere zwei Kinder. Wir fragen aus Prinzip niemanden, ob er unser „Projekt“ finanzieren möchte. Jeder sollte selbst in der Lage sein, seine Träume ohne fremde Hilfe zu verwirklichen.Zuerst haben wir einen ganzen Winter im autonomen Kreis der Ewenken verbracht, dann sind wir fast 5000 Kilometer an Flüssen entlang gewandert, bis wir fast ganz Jakutien durchquert hatten. Im Herzen des Tscherskigebirges in Ostsibiriensind wir schließlich angekommen. An einem Bergsee haben wir ein Haus gebaut. Die nächste Siedlung liegt 100 Kilometer entfernt. Wir führen ein echtes Einsiedlerleben. Unser Alltag ist im Gegensatz zu unserem früheren Leben bescheiden: Wir suchen Holz, schöpfen Wasser, schüren den Ofen und bereiten das Essen vor. Im Winter überprüfen wir jeden Tag die Jagdfallen, im Herbst und im Frühling angeln wir. In den tiefsten Wintermonaten lese und schreibe ich im warmen Licht der Petroleumlampe. Während dieser Zeit schalte ich ab und an das Satelliten-Internet ein, lese Nachrichten, schaue was meine Freunde in den sozialen Netzwerken treiben – das alles scheint nun so weit entfernt zu sein.

Früher dachte ich, dass die Zivilisation ein Geschwür am Körper des Planeten ist. Heute sehe ich sie als ein Element von vielen an. Sie hat genauso eine Daseinsberechtigung wie die Taiga, mit all ihren Gesetzen und Regeln des Überlebens. Was ich in der Wildnis gelernt habe, ist, bewusst mit meinen Wünschen umzugehen. Wenn man gelernt hat, seine Wünsche zu reflektieren, bemerkt man, dass viele Dinge nicht notwendig sind. Zu den Dorfbewohnern halten wir Kontakt, obwohl sie uns nicht verstehen. Was wir machen ist Nonsens in ihren Augen – sie wollen nach Jakutsk oder sogar nach Moskau. Wir dagegen aufs Land. Vorerst werden wir hier bleiben. Aber wir haben Pläne. Ich habe noch nie den Baikalsee gesehen.

Jelisaweta Birmann, Susdal

Jelisaweta Birmann vor einem typischen Holzhaus in Susdal / Foto: Privat.

Mein Mann Artur und ich sind waschechte Moskauer. Doch vor einigen Jahren sind wir nach Susdalgezogen. Die Idee kam, als wir über die Frage „Was bremst unsere Entwicklung?“ nachdachten. Ein Rattenschwanz an Gästen, ständige Hetzerei, Metro, Stau und Schnelllebigkeit haben uns immer weniger glücklich gemacht. Stück für Stück nahm unser Traum von einem großen Haus, in dem es viele Kinder und Gäste geben sollte, Gestalt an. Damit wir uns gänzlich dem Studium widmen konnten, beschlossen wir, nicht in Moskau zu studieren, sondern in Wladimir. Dort lebten wir gerade erst ein halbes Jahr, als wir einen Ausflug nach Susdal unternahmen und uns in dieses Nest verliebten. Hier stehen rund 300 Objekte unter Denkmahlschutz. Handgeschnitzte Fensterrahmen, viele Pferde und das Glockenläuten – lebendige Geschichte, die nicht hinter Museumsglas versteckt wird. An dem Tag, als wir beschlossen, nach Susdal zu ziehen, bekamen wir die Nachricht, dass wir ein Kind erwarten. Nun waren wir zuversichtlich, dass unser Kind sauberes Wasser trinken und saubere Luft atmen wird.

 

Jelisawetas Mann samt Sohn / Foto: Privat.

Im Gebiet Wladimir hat sich unser Essverhalten verändert, denn Bio-Produkte sind hier erschwinglicher als in Moskau. Eier bekommen wir von einer Nachbarin, Milch von einer anderen und bei einer dritten das Gemüse. Die Einwohner von Susdal sind Selbstversorger. Wir lieben die Banja und das Eisbaden. Im Sommer verbringen wir viel Zeit im Wald, suchen Pilze und Beeren. Das Leben auf dem Land ist günstiger, man hat mehr Freizeit.

Alles klingt natürlich sehr romantisch, doch wir sehen unseren Umzug aufs Land nicht durch eine rosarote Brille. Wir haben lange Zeit gebraucht, bis wir Freunde fanden und die charakteristische Lebensweise dieses Ortes verinnerlichen konnten. Außerdem tut das Etikett „Moskauer“ sein Übriges, vor allem auf der Arbeit. Für die Bewohner sind wir wie Touristen, die zum Einkaufen nach Susdal kommen. Zurzeit sind wir beide noch in der Ausbildung. Artur arbeitet und studiert im Bereich Tourismus, ich studiere an der medizinischen Fakultät und biete Blutegel-Therapien an. Dank des Umzugs sehe ich Moskau mit anderen Augen. Jeder Besuch ist wie ein Feiertag. Langersehnte Treffen, Einkäufe, interessante Events – all das schätzen wir mehr als vorher.

Anton Raskolnikow, Gebiet Jaroslawl

Von Moskau ins Altai-Gebirge: Anton Raskolnikow hat sein Leben um 180 Grad gedreht. / Foto: Privat.

Bis 2014 führte ich das Leben eines typischen Moskauers: Ich habe in einem Mobilfunkgeschäft gearbeitet, habe moderne Sachen gekauft, ich war bestrebt, mich mit erfolgreichen Menschen zu umgeben, die mehr verdienten als ich. Doch mit 25 Jahren wurde mir bewusst, dass mir das Herdenleben in einer Megastadt nicht gefällt. Mir widerstrebt das Gefühl, sich ihren Mechanismen zu beugen. Eine Reise per Anhalter hat mir dafür die Augen geöffnet. Ich bemerkte, wie begrenzt mein urbanes Leben in Wahrheit doch ist. Und instinktiv wusste ich: Wenn ich mein Leben jetzt nicht kardinal ändere, dann werde ich mir das nie verzeihen. Also bestellte ich einen Wunsch im Universum: In den sozialen Netzwerken schrieb ich einen Post, dass ich gerne mal außerhalb von Moskau wohnen würde. Prompt wurde ich von Angeboten nur so überschüttet. Ich packte meine Koffer und fuhr ins Altai-Gebirge.

Anton Raskolnikow hat in der Provinz seine Freiheit gefunden. / Foto: Privat.

Familie und Freunde verurteilten meinen Entschluss am Anfang. Für sie war es ein Abstieg auf der sozialen Leiter. Heute verfolgen sie meinen Blog und bewundern meine Art zu leben. Sie bringt mich dem Glück und der Freiheit näher. Ich allein bürge für meine Entscheidungen und das ist toll. Morgens wasche ich mich im eiskalten Fluss, treibe viel Sport, fotografiere und lese. Ich ernähre mich jetzt ganz anders. Ich hätte nie gedacht, dass eine Suppe aus Brennnesseln so lecker schmecken kann. Ich komme zum ersten Mal mit wenig Mitteln zurecht. Ich brauche nur 70 Euro im Monat und manchmal sogar weniger. Das Geld verdiene ich auf unterschiedliche Weise.

Man denkt, dass sich nur wenige in diese Einöde verirren. Einmal klopfte ein älterer Herr an meiner Tür. Es hat sich herausgestellt, dass er früher ein professioneller Abfahrtsläufer war und zu seiner Zeit den berühmten russischen Barden Wladimir Wyssozkij trainiert hatte. Wir haben uns die ganze Nacht unterhalten. So habe ich im Altai sieben Monate verbracht. Vor Kurzem bin ich in ein Dorf im Gebiet Jaroslawl gezogen. Das Leben in der Provinz hat mich gelehrt, selbständig zu sein. In einer Stadt ist der Mensch auch eigenverantwortlich, aber anders. Er ist ein Rädchen im Getriebe. Auf dem Dorf bist du dagegen das Zentrum deines eigenen Universums.

Aufgezeichnet von Anastassija Buschujewa.

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