„Es zankten sich Hunderte Kirchentürme“: Zum 125. Geburtstag von Marina Zwetajewa

Moskau war für Marina Zwetajewa so wichtig wie die Dichterin für die russische Literatur. Leben und Werk zeigen das in aller Heftigkeit.

Marina-Zwetajewa-Denkmal im Moskauer Borisoglebskij Pereulok / Peggy Lohse

Zwetajewa-Denkmal in Moskau / Peggy Lohse

– Moskau! – was bist Du nur

für ein riesiges Gasthaus!

Ein jeder in der Rus ist ein Bettler,

alle ziehen wir zu Dir aus.

Verse über Moskau VIII,

8. Juli 1916, Kasanskaja


Ihre eigene „Autobiografie” schreibt Marina Zwetajewa 1940, ein Jahr bevor sie wirklich gehen wird. Ihr Schicksal trägt all die Umbrüche ihrer Zeit in sich – neue Freiheiten und kultureller Aufbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Erster Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg, Emigration, Zweiter Weltkrieg.

Am 8. Oktober 1892 wird Marina Zwetajewa im Trjochprudnyj Pereulok 8 geboren. Sie selbst nennt ihren Geburtstag lieber einen Tag später – gemeinsam mit dem Tag des Apostels Johannes.


Es zankten sich 

Hunderte Kirchentürme 

Es war Samstag, 

Tag des Apostels Johannes.

Verse über Moskau IX, 16. August 1916


Ihre Eltern, allen voran ihr Vater Iwan Zwetajew, waren angesehene Leute im vorrevolutionären Zarenreich. Der Historiker war viel im Ausland unterwegs. Er pflegte einen intensiven Briefkontakt mit dem Leiter der Dresdner Skultpurensammlung, sammelte selbst und fand 1897 in dem Millionär Jurij Netschajew-Malzow endlich einen Geldgeber für ein eigenes Museum: 1912 eröffnete dann sein „Museum der Schönen Künste“, das heutige Staatliche Puschkin-Museum.

Die mütterliche Seite vermittelte Zwetajewa vor allem Musik: In ihrem autobiografischen Essay „Die Mutter und die Musik“ schreibt sie:

Die Mutter hat uns überschwemmt mit Musik. (Aus dieser Musik, die sich in Lyrik verwandelte, konnten wir nie mehr heraus schwimmen – ans Tageslicht!) […] Ich kann sagen, ich bin nicht ins Leben, sondern in die Musik hinein geboren worden.

Poet Woloschin fotografierte Zwetajewa 1911 in Koktebel, Krim. / Wikipedia

Poet Woloschin fotografierte Zwetajewa 1911 auf der Krim. / Wikipedia

Marina liest mit drei Jahren, schreibt mit vier und mit sechs verfasst sie ihre ersten Verse auf Russisch, Französisch und Deutsch. Sie besucht in Moskau das Gymnasium Nummer vier, bis die Familie wegen einer Tuberkulose-Erkrankung der Mutter nach Italien zieht, später nach Frankreich, Freiburg, dann auf die Krim. Nach ihrer Rückkehr nach Russland stirbt die Mutter 1905. Marina besucht mehrere private Mädchengymnasien – mit mäßigen Erfolgen.

1910 erscheint ihr erster Gedichtband „Abendalbum“ mit Werken aus ihrer Schulzeit. Daraufhin wird sie von dem Poeten Maximilian Woloschin nach Koktebel auf die Krim eingeladen, wo sich damals die russische Literaturszene zu treffen pflegte. Dort lernt sie auch den Prosaisten Sergej Efron kennen, einen kränklichen, gutmütigen jungen Mann, den sie 1912 in Moskau heiratet. Ihr Heim finden sie im Borisoglebskij Pereulok 8. Heute befindet sich dort, in einer Seitenstraße des Neuen Arbats, das Moskauer Zwetajewa-Museum.

Zwetajewa und Efron bekommen drei Kinder und bleiben bis zum Ende zusammen, so gut sie können. Ihr Ehemann duldet die nicht immer nur platonischen Beziehungen seiner Frau, weil er ihnen große Bedeutung für das Schaffen seiner Frau beimisst. So ist die Liaison mit der offenkundig lesbischen Schauspielerin Sonja Parnok weder für das Umfeld noch für Efron ein Problem. Es entsteht „Sonetschka“. Aber bald schon kommt die Revolution – und trifft das Paar Efron-Zwetajewa hart.


Sie haben keine Gesichter, keine Namen, –

ihnen fehlen die Lieder!

Du hast Dich verirrt, Du Klang des Kreml,

in diesem stürmischen Fahnenwald,

Bete, Moskau, und leg dich nieder,

Moskau, zu einem ewigen Schlaf!

Moskau, 2. März 1917


Efron geht zum Militär und kämpft für die „Weißen“ gegen die Bolschewiki. Marina sitzt mit den Kindern in den oberen Kammern ihrer Wohnung fest. Die hintere „schwarze“ Treppe, die einst die Diener und Hausmädchen nutzten, wird für Marina und ihre Tochter Ariadne zur „Isaaks Treppe in den Himmel“. In Moskau herrschen Hungersnot, Chaos und Zensur. Ihre jüngste Tochter stirbt in einem Kinderheim an Unterernährung.

Erst fünf Jahre später findet Zwetajewa einen Ausweg und geht mit der Älteren Ariadna nach Berlin, wo sie ihren Mann wiedertrifft. Die Familie zieht weiter nach Prag und Paris. Dort wird der kleine Georgij geboren. Gleichzeitig hält die Dichterin stets Kontakt zu Boris Pasternak, Rainer Maria Rilke und vielen anderen Literaturgrößen.

...dem Museum gegenüber direkt in die Fenster. / Peggy Lohse

Eine von vier Stadtwohnungen hier im Borisoglebskij-Pereulok mietete das Ehepaar Efron-Zwetajewa. Heute befindet sich hier das Moskauer Zwetajewa-Museum. / Peggy Lohse

Als dann aber 1939 mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges auch Europa gefährlich wird, kehren die vier zurück ins sowjetische Moskau. Dort werden sie jedoch mit allem anderen denn offenen Armen empfangen: Zwetajewas Umfeld wird der Spionage verdächtigt. Ariadnas Verlobter entpuppt sich als NKWD-Agent, der die Familie überwachte. Schwester Anastassija war schon inhaftiert. Mann und Tochter werden kurz nach der Ankunft festgenommen. Efron wird erschossen, Ariadna muss acht Jahre ins Gefängnis.

Marina Zwetajewa bittet um einen Job als Putzfrau in der neu entstehenden Schriftsteller-Mensa. Die Bitte wurde abgelehnt. / Wikipedia

Marina Zwetajewa bittet um einen Job als Putzfrau in der neu entstehenden Schriftsteller-Mensa. Die Bitte wurde abgelehnt. / Wikipedia

Und obwohl Pasternak Zwetajewa als Freund Übersetzungsarbeiten zuspielen kann, hat sie doch keinerlei Aussicht auf Veröffentlichungen. Nicht einmal als Spülhilfe in die neue Mensa für Schriftstellerfamilien nimmt man sie auf. Aus Angst vor Verfolgung lassen sie letztlich alle früheren Freunde und Kollegen im Stich.

Als der Zweite Weltkrieg die Sowjetunion erreicht, flieht sie mit dem Sohn nach Jelabuga in Tatarstan. Drei Wochen später, am 31. August 1941, erhängt sie sich dort. An Georgij schreibt sie: „Verzeih mir, aber weiter wäre es nur noch schlimmer geworden. Ich bin schwer krank, das bin schon nicht mehr ich.“

Georgij schleppt, weil sich sonst niemand der Texte annehmen möchte, das ganze Archiv der Mutter noch zu Kriegszeiten wieder nach Moskau, um es dort bei Tante Anastassija unterzubringen. Ihren Aufzeichnungen ist es zu verdanken, dass wir heute so viel über die Dichterin wissen.


Durch Moskaus Straßen, die der Zar verließ 

Werd fahren: ich, und werdet gehen: ihr. 

So mancher bleibt auf diesem Weg zurück 

Der erste Brocken bricht am Sarge mir 

Ach, endlich endet unterm Wolkenbaum 

Der eigensüchtige einsame Traum. 

Und nichts braucht mehr seit dieser Frist 

Bojarin Marina, die so gegangen ist.

Verse über Moskau IV, 11. April 1916, erster Ostertag,

übertragen von Sarah Kirsch


Text und Übertragungen (außer „Durch Moskaus Straßen…): Peggy Lohse 

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