„Deutsches Theater“ in Moskauer Wohnungen

In Moskau gastiert die legendäre Theatergruppe Rimini Protokoll. Das Kollektiv besteht aus drei deutschen Regisseuren, deren Steckenpferd das Dokumentartheater ist. Professionelle Schauspieler fehlen in ihren Projekten. Dafür gibt es echte Geschichten mit realen Menschen über aktuelle gesellschaftspolitische Themen.

Teilnehmer von „Rimini Protokoll“ beim Versuch, Europas Sorgen zu erhören. / Darja Nesterowskaja

Teilnehmer von „Rimini Protokoll“ beim Versuch, Europas Sorgen zu erhören. / Darja Nesterowskaja

Kann ein politisches Ziel mit Gewalt gerechtfertigt werden? Welche Grenzen auf der Landkarte sollten Ihrer Meinung nach verlagert, gelöscht oder neugezogen werden? Diese unbequemen Fragen fielen in der Performance „Hausbesuch Europa“. Das Ungewöhnliche an diesem Stück: Statt auf den Brettern, die die Welt bedeuten, wurde die Performance in einer Moskauer Wohnung aufgeführt. Die intime Atmosphäre hob die Position zwischen Schauspieler und Zuschauer auf. Es sind nämlich die Gäste am Tee-Tisch und nicht die Moderatoren, die die Handlung vorantreiben. Sie diskutieren, markieren auf der Weltkarte Orte, die ihnen wichtig sind, erzählen ihre Familiengeschichten und teilen ihre politischen Ansichten mit. Ein einfacher Apparat auf dem Tisch orchestriert die Dramaturgie. „Trrr“, brummt das Gerät. Heraus kommen Zettel mit Anweisungen und Fragen. Das Ziel ist es, dem Zuschauer Emotionen zu entlocken. Und wohin solch ein „Spektakel“ führt, weiß keiner.

Im Rahmen des Theaterfestivals „Territorium“ werden 30 solcher Performances in 30 unterschiedlichen Moskauer Wohnungen durchgeführt. Irina Palij, die Eigentümerin der Wohnung, gesteht, dass ihr die Entscheidung, ihre Tür unbekannten Menschen zu öffnen, nicht leicht fiel. Zu erahnen, was für eine Gruppe sich zusammenfindet, ist schwer. Und selbst Liebhaber experimenteller Kunst kommen in der künstlichen Situation bei intimen Fragen ins Schwitzen.

Moskau ist nicht die erste Station des Projekts. „Europa“ war schon in 16 Ländern zu Gast. Anton Rose ist der Kurator des Theaterstücks. Auch wenn er kein Wort Russisch versteht, beobachtet er das Geschehen in der Wohnung mit Neugier. Zwar habe die Performance keinen Anspruch auf eine repräsentative Umfrage, jedoch lasse sie tief in die Gesellschaft blicken. Was für Außenstehende originell erscheinen mag, ist für die Regisseure Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel schlicht Normalität. Kennengelernt haben sich die drei beim Studium der Angewandten Theaterwissenschaft an der Universität Gießen. Später vereinigten sie ihre Einzelprojekte unter dem gemeinsamen Label „Rimini Protokoll“. Protokoll, weil sie das Geschehene um sich herum dokumentieren. Und Rimini, „weil es gut klingt“, erklärt Helgard Haug.

Anastassija Buschuewa 
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