Lehren aus 1917: Was die Oktoberrevolution der Welt gegeben und genommen hat

Im Mai 2017 hielt Ruslan Grinberg einen Vortrag über die nicht gezogenen Lehren der Oktoberrevolution. Die MDZ gibt diesen in Auszügen wieder.

Vor 100 Jahren fanden in Russland außergewöhnliche Ereignisse statt. Nach der Revolution im Februar 1917 versank das Land im Chaos. Die Hoffnung, dass sich die neuen demokratischen Institutionen behaupten können, erfüllte sich nicht.

Warum nahm die Geschichte gerade diesen Weg? Wie ist die Revolution von 1917 zu bewerten? Unter der intellektuellen Elite Russlands dominieren diesbezüglich zwei völlig entgegengesetzte Standpunkte.

Die einen sind überzeugt, dass als Resultat der Oktoberrevolution das goldene Jahrhundert Russlands in Form der Sowjetunion begann und dem Land seine messianische Rolle zukommen ließ. Russland schien nicht nur gefürchtet, sondern auch respektiert zu werden.

Die anderen widersprechen dem und sehen die Oktoberrevolution als reinen Umsturz und Verbrechen einer Gruppe von Radikalen unter der Führung von Lenin. Sie rufen dazu auf, die Sowjetunion als eine finstere Zeit zu proklamieren. Nur durch eine Dekommunisierung kann Russland den richtigen, den europäischen Weg einschlagen.

Unbestreitbar ist die These, dass der russische Vorstoß, Gerechtigkeit zu schaffen, gewaltige Auswirkungen auf die Sozialpolitik kapitalistischer Länder hatte. Die von der Oktoberrevolution erklärte Gleichberechtigung gewann weltweit an Popularität. Es ist kein Zufall, dass westliche Intellektuelle nach Russland kamen, um dieses nie dagewesene soziale Experiment, Glück für alle zu schaffen, zu beobachten.

Oktoberrevolution

Junge Menschen feiern das Jubiläum der Oktoberrevolution./ Foto: RIA Nowosti

Ungelernte Lektionen

Trotz allem empfinde ich keine besondere Nostalgie für die Sowjetunion. Man muss immer an die Millionen von unschuldigen Opfern der stalinistischen Repression denken. Sie waren eine Folge davon, dass es dem Land im Oktober 1917 nach Gerechtigkeit dürstete, die es in gewisser Weise auch erhielt. Der Preis war jedoch der völlige Verzicht auf die zuvor errungene Freiheit.

Diese Absage an demokratische Institutionen zog ein Machtmonopol für die Partei und die Diktatur einer einzelnen Person nach sich, deren Verbrechen dermaßen schrecklich waren, dass sie auch nicht mit den Modernisierungserfolgen des Landes gerechtfertigt werden können.

Die heutige Renaissance von Hochachtung für Stalin ist gleichzeitig „eine Schande“ und „ein Problem“ für Russland. Die Anbetung eines Massenmörders ist ein Ausdruck des absoluten Scheiterns liberaler Reformen, die wegen des vorschnellen Vertrauens in die segensreiche Mission des „freien Marktes“ zur Massenarmut der Russen führten. Auch das ist eine Lehre der Revolution.

Russische Laster

Nun zu den anderen ungelernten Lektionen. Die russische Intelligenz leidet an einigen Lastern, die bis heute nicht ausgemerzt werden konnten. Unser heutiges Elend kann man mit diesen „genetischen Besonderheiten“ in Verbindung bringen. Eine davon ist der Glaube an die Allmacht von Theorien, die man um jeden Preis und gegen jeden Widerstand umzusetzen versucht.

Ich nenne dies den „Zwang zum Glück“. Im Wesentlichen geht es darum, dass wir 1917 Kurs auf Gerechtigkeit genommen haben. Russland vollzog den Sprung und ignorierte dabei vollständig die Freiheit. Der Marxismus hatte zur damaligen Zeit merkliche Entwicklungen durchlaufen.

Obwohl es also Alternativen gab, obsiegte in Russland ein Extrem. Die neuen Führer wählten den Kriegskommunismus und lehnten damit jegliche wirtschaftlichen Beziehungen mit der Außenwelt ab.

Etwas Ähnliches geschah auch am Anfang der 1990er Jahre, als wir nach 70 Jahren kollektiven Schweigens fälschlicherweise entschieden, dass die neue Freiheit ebenfalls Gerechtigkeit ist, und diese dann als notwendige und hinreichende Bedingung für ein wohlgenährtes und zivilisiertes Leben betrachteten. Auf kindliche Weise glaubten wir, dass Wurst ein unmittelbares Produkt von Freiheit ist. Dies war ein großer Fehler.

Ebenso wenig können wir uns bis dato von der Ungeduld der russischen demokratischen Bewegung befreien. Wir scheinen zu glauben, dass eine gerechte Gesellschaft mit einem Schlag geschaffen werden kann. Unsere Ungeduld verbindet sich hier mit dem Wunsch, schnellstmöglich die Macht zu übernehmen. So war es beim Sturm auf den Winterpalast und auch bei der Jelzinschen Einführung des radikalen Liberalismus, die einer Schocktherapie glich.

Es dürfen auch die absolut anormalen Beziehungen zum Westen nicht unerwähnt bleiben, die kurz als eine Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn charakterisiert werden können. Eine unvoreingenommene und ausgewogene pragmatische Haltung zu ihm ist die Ausnahme.

So folgten die Russen Ende der 1980er Jahre bedingungslos allen Empfehlungen aus dem Westen. Unser Kapitalismus war besonders brutal, da er die Demontage alles „Sozialen“ betrieb, was zu Zeiten der Sowjetunion existierte.Und was man auch immer von Wladimir Putin halten möchte, so gab er zumindest, wenn auch nicht Recht, so doch Ordnung.

Und das ist ein weiteres Resultat genau jener uns eigenen Besonderheit. Die heutige, übertrieben irrationale Feindseligkeit zum Westen trägt keine besonderen Früchte, denn wenn wir uns von ihm abwenden, beginnen wir ein Ideal in der Vergangenheit zu suchen, und heute scheint uns diese dann plötzlich unbegründet schön.

Noch ein Laster unserer Mentalität ist die absolute Unfähigkeit zu Konsens. Eine Kultur des Dialogs und des Kompromisses ist praktisch nicht vorhanden. Daher rührt die Sehnsucht nach einer festen, starken Hand, die als einzige die Probleme der weiteren Entwicklung des Landes lösen kann. Wenn Autoritarismus lang genug anhält, verwandelt sich Stabilität in Stagnation, was wir im Moment beobachten können.

Das ist im Grunde genommen die Konstante der russischen Geschichte. Autokratie bringt eine gewisse Ordnung. Hat man diese Ordnung satt, verlangt man nach irgendeiner Art von liberaler Restrukturierung. Und wenn die liberale Lehre gewinnt, stürzt dies das Land in ein Chaos, worauf erneut die Sehnsucht nach einer starken Hand erwacht. Und alles beginnt wieder von vorne.

Diesen Teufelskreis gilt es zu überwinden. Und hier besteht eine besondere Verantwortung, nicht nur der Mächtigen, sondern der ganzen Gesellschaft. Dabei kann ein Ausweg nur auf Grundlage objektiver Debatten gefunden werden. Dies ist aber nur in Institutionen möglich.

Neue Umbrüche

Russland befindet sich derzeit am Rande radikal neuer Veränderungen, sowohl in materieller als auch in soziokultureller Hinsicht. Verschiedene Lager stehen in einem Wettbewerb bei der Lösung der Frage, wie die adäquaten Antworten auf die Herausforderungen der heutigen Zeit lauten müssen. Insgesamt sind wir erneut an einem Scheideweg angelangt und scheinen nicht zu wissen, in welche Richtung wir gehen sollen…

Menschen haben immer von einer gerechten Gesellschaftsform geträumt und werden dies auch weiterhin tun. Dies geschah und geschieht nicht nur in Zukunfts-utopien, sondern auch in Bezug auf die Lehren der Vergangenheit.
Heute erlebt die ganze Welt eine beispiellose Verunsicherung.

Dies ist nicht ausschließlich und vor allem durch das Erscheinen von Donald Trump und den Brexit begründet, sondern durch die Angst vor der ziemlich alarmierenden Analogie zum Isolationismus und Protektionismus der dreißiger Jahre.

Gott sei Dank gibt es in den USA und in Europa noch einflussreiche Kräfte, die in der Lage sind, den Untergang des freien Handels zu verhindern, jedoch wächst der Einfluss von Rechtspopulisten, die den Wohlstand ihrer Völker vor allem auf Kosten der anderen zu sichern suchen.

Die Lehre, die aus all dem gezogen werden sollte, ist offensichtlich. Man muss versuchen, die Auswüchse des Liberalismus, Nationalismus und administrativer Regulierung zu vermeiden. Dabei ist das Wichtigste – das Problem der sich erweiternden Kluft zwischen einem Häufchen Reicher und einer Masse von Armen – zu lösen.

Der aktuelle Niedergang der russischen Mittelschicht schafft eine erschreckende Parallele zum Jahr 1917. Aber wir haben einen Vorteil: Wir wissen genau, was passieren kann, wenn wir eine nicht hinnehmbare soziale Ungleichheit ignorieren.

Jede Revolution ist für sich betrachtet schlecht. Die Erwartungen an sie gehen fast nie in Erfüllung und sie sind fast immer blutig. Um sie zu verhindern, müssen die sich in der Gesellschaft aufbauenden Probleme konstruktiv gelöst werden, wobei es hier keinerlei Alternative zu einer Kultur der gegenseitigen Zugeständnisse zwischen Regierung und Opposition gibt. Im Wesentlichen ist dies die wichtigste Lehre der großen russischen Revolution.

 

 

Über den Autor

Grinberg

Ruslan Grinberg ist Vizepräsident der Russischen Gesellschaft Freier Ökonomen VEO, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Wirtschaft der Russischen Akademie der Wissenschaften, korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften und Vizepräsident des Moskauer Wirtschaftsforums.

Er ist Vorsitzender des GUS Expertenrates der Industrie- und Handelskammer Russlands sowie Mitglied des Expertenrates des Wirtschaftsentwicklungsministeriums. Grinberg ist Professor an der Moskauer Wirtschaftsschule der Lomonossow Universität.

In seiner wissenschaftlichen Tätigkeit beschäftigt er sich mit den wirtschaftlichen und politischen Problemen im postsowjetischen Raum und der Rolle des Staates in der modernen Wirtschaft. Grinberg publizierte über 250 Arbeiten und führte das Konzept der transformellen Inflation ein.

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