Keine Kindersache: alte Klassiker, neue Helden und verbotene Liebe beim Trickfilmfestival

Animationsfilme aus aller Welt gab es auf dem 11. Großen Trickfilmfestival in Moskau zu sehen. Nicht nur die kleinen Gäste waren von den gezeigten Filmen begeistert, sondern auch Erwachsene. Denn wenn gezeichnete Helden zum Leben erwachen, dann dienen sie nicht nur der Unterhaltung.

Überall lauert Gefahr: Der kleine Igel im Nebel von Jurij Norstein /Foto: Screenshot.

Micky Maus ist zwar eine Kultfigur, aber doch schon in die Jahre gekommen. Heutzutage haben russische Kinder ganz andere Animationshelden. Sie würden sich eher „Mascha und der Bär“, „Smeschariki“ und „Fiksiki“ anschauen, die beliebtesten Trickfilmserien aus Russland. Kein Wunder, dass die Premiere, auf die die kleinen Gäste des Großen Festivals des Trickfilms in Moskau sehnsüchtig warteten, der Film „Fiksiki. Ein großes Geheimnis“ war. Fiksiki heißen die kleinen Wesen, die in Autos und Geräten wohnen und sich um die Technik kümmern.

Während die Kinder die Abenteuer dieser Helden im Kinosaal verfolgten, lauschten die Eltern einem Vortrag über ihre Kindheitshelden: Klassiker der sowjetischen Animationskunst aus dem Pinsel von Jurij Norstein.
Dem einen oder anderen wird dieser Name etwas sagen. Jurij Norstein schuf einen großen Teil der sowjetischen Trickfilme. Einer der bekanntesten und legendärsten Filme ist „Igelchen im Nebel“. Der zehnminütige Film erzählt von einem kleinen Igel, der sich auf dem Weg zu seinem Freund, dem Bären, im Wald im dichten Nebel verirrt und überall Gefahr wittert.

„Ich bin der letzte Idiot, der auf Band dreht“

Dem Trickfilm liegt eine philosophische Botschaft zugrunde: Nicht sein Umfeld ist sein Feind, sondern seine Angst. Nicht minder philosophisch ist die Weltsicht des Schöpfers selbst. „Viele denken, dass ich ein Mensch bin, der die Existenz des Computers ignoriert. Das ist aber Blödsinn“, sagt Norstein beim Festival. „Der Computer ist genauso ein natürlicher Teil unseres Lebens wie Regen oder Schnee. Er gibt jedem die Möglichkeit, einen Trickfilm zu machen. Wichtig ist nur, dass hinter dem Computer ein Mensch sitzt.“ Er selbst lässt den digitalen Wandel an sich vorbei sausen. In seinem eigenen kleinen Studio produziert er weiterhin nach dem alten Prinzip, mit einer Filmkamera gewappnet. Hier arbeitet der Meister an einem Werk, das er seit mehr als 30 Jahren nicht vollenden kann, verrät Norstein. Es handelt sich um einen Animationsfilm, der auf der Erzählung „Der Mantel“ von Nikolaj Gogol basiert.

Die Dauer von 30 Jahren klingt fast schon tragikomisch, bedenkt man, dass große Medienunternehmen gleich mehrere Animationsfilme pro Jahr auf den Markt bringen. Dieser Fakt scheint Norstein überhaupt nicht zu stören: „Ich bin der letzte Idiot, der auf Band dreht. Aber ich werde diesen Prozess nie gegen einen Computer eintauschen. Ein Filmband hat eine komplett andere molekulare Struktur. Sie ist für die Veränderung von Farben empfänglicher.“ Für angehende Trickfilmregisseure hat er einen überraschenden Tipp: Studenten sollten nicht ins Kino gehen, sondern die großen Galerien besuchen, wo die alten Meister hängen, um die Abbildungen zu studieren. Denn als Liebhaber der Malerei weiß Norstein die Techniken großer Meister wie Rembrandt, Picasso oder Schischkin zu schätzen.

Kein Tabu beim Trickfilm

Neben neuen Kinderhelden und alten Klassikern fand sich im vielfältigen Programm auch Raum für die Liebe – von der unschuldigen bis zur verbotenen. Über aktuelle Trends und Themen erzählte Dina Goder, Initiatorin und Ideengeberin des Festivals und bekannte Theaterkritikerin. So sollten sich immer mehr zeitgenössische Animationsregisseure mit Liebe und Sex auseinandersetzen. „In den letzten Jahren finden sich unter den Absolventen großer Filmschulen immer mehr Frauen. Diese weibliche Generation bringt neue Themen auf den Spielplan, die früher tabuisiert waren. Heute machen Frauen Filme über die weibliche Sexualität, ihre Träume, Ängste und Traumata“, sagt Goder. Auch solche Animationsfilme schafften es ins Programm. Der Zutritt war streng mit 18+ bewertet. Zu sehen waren Werke aus Japan, Frankreich, Kanada, den USA, Polen und der Slowakei. Nur nicht aus Russland.

Warum drehen russische Trickfilmregisseure nichts über Sex, lautete eine Frage aus dem Publikum, das fast ausschließlich weiblich war. Nur ein Mann hatte sich in den Zuschauerraum „verirrt“ und ihm war das Thema sichtlich peinlich. Goder muss bei dieser Frage nicht lange überlegen: „Ich denke, dass es mit unserem Verklemmtsein zu tun hat. Wir haben Angst, über diese Themen offen zu sprechen. Unsere Regisseure sind es noch aus Sowjetzeiten gewöhnt, Märchen zu animieren, die weit weg von unserer Realität sind.“ Nach der Veranstaltung bedankte sich der Mann bei Goder für den interessanten Vortrag. Auch als Erwachsener kann man von Trickfilmen lernen, denn sie sind eben nicht nur Kindersache.

Sowjet-Klassiker

Schon zu Sowjetzeiten war der Film „Igelchen im Nebel“ eine Legende. 1975 im Animationsstudio „Sojusmultfilm“ entstanden, folgten 1977 die ersten Auszeichnungen im Ausland. Beim Laputa-Festival in Tokio holte Jurij Norsteins (Regie) und Sergej Koslows (Drehbuch) Werk 2003 den Spitzenplatz: „Bester Animationsfilm aller Zeiten“.

Ljubawa Winokurowa

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