Skandal-Aktivist auf der Flucht: „Krieg“ braucht eine Pause

Oleg Worotnikow ist auf der Flucht. Gegen den Kopf der legendären russischen Kunstgruppe „Wojna“ (dt. Krieg) besteht ein Interpol-Haftbefehl. Darin wirft ihm Russland vor, Beamte beleidigt und Gewalt gegen sie angewendet zu haben. In der Heimat drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft in einem Arbeitslager. Nun wurde er Mitte September in Prag vorübergehend festgenommen. Tschechiens Justizminister Robert Pelikán deutete an, dass eine Auslieferung unwahrscheinlich ist. Unsere Kollegen von der „Prager Zeitung“ haben Worotnikow in Prag getroffen.

Oleg, warum halten Sie sich nun mit Ihrer Familie ausgerechnet in Tschechien auf?

Wir sind eher zufällig hierher gekommen, weil wir nirgendwo anders in Europa eine Unterkunft gefunden haben. Wir haben Russland illegal verlassen, ohne irgendwelche Dokumente. In Prag leben viele Leute, die uns kennen, schätzen und unsere Kunst respektieren.

Nun sind Sie auch hier Flüchtlinge ohne Papiere. Müssten Sie nicht auch in Tschechien zunächst in eine Flüchtlingsunterkunft?

Ja, das wissen wir. Aber wir bestehen darauf, dass es keinen Grund gibt, uns in ein Lager zu sperren. Ein solches Lager hat zunächst den Zweck, Flüchtlinge abzuschotten, weil sie viele Krankheiten haben könnten. Wenn sie zum Beispiel aus Syrien kommen, müssen sie erst in Quarantäne, sie müssen geimpft und untersucht werden. Aber wir leben seit Jahren in Europa. Wir müssen nicht isoliert werden, wir sind genau wie ihr, wir haben die gleiche Luft geatmet, wir haben das gleiche Blut. Wir fordern keine Hilfe vom Staat.

Oleg zieht an einem Joint, den Natalja gedreht hat.

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Oleg Worotnikow, Kopf von „Wojna“, in seiner Prager Zuflucht / Prager Zeitung

Das heißt, Sie fühlen sich nicht als Flüchtlinge in Tschechien?

Wir sind Künstler, wir wollen als Künstler arbeiten, aber wir sind keine Flüchtlinge ohne Rechte. Wir bitten nicht um etwas, wir gehen nicht auf die Knie, wir bestehen nur darauf, dass wir die gleichen Rechte haben, hier zu sein, ja sogar mehr Rechte als andere, denn wir sind sehr gute Künstler.

Sind gute Künstler denn bessere Menschen als Flüchtlinge, die keine Künstler sind?

Kennen Sie unsere Kunst?

Die bekannteste Aktion ist wohl der sechzig Meter große Penis, den „Wojna“-Aktivisten 2010 auf eine Zugbrücke gegenüber dem Gebäude des Geheimdienstes in St. Petersburg malten …

Experten sagen – und ich stimme damit überein, die Brücke sei wie „Guernica“ von Pablo Picasso. Alle werden sterben, aber diese Brücke wird ewig leben. Sie ist ein Meisterwerk wie das „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch, das ist meine Meinung. Und ich denke, ich bin ein bisschen besser als alle tschechischen Künstler zusammen. Wenn man so eine Meinung vertritt, wird man natürlich nicht gemocht von den Leuten. Aber es stimmt. Ich kann nicht lügen, als Künstler habe ich kein Recht zu lügen.

Wollen Sie nun Asyl in Tschechien beantragen?

Wir haben schon in der Schweiz einen Asylantrag gestellt. Wir wollten es nicht, aber wir mussten. Bevor sie uns ins Lager brachten, steckten sie mich in Abschiebehaft und nannten mir zwei Möglichkeiten. Entweder Asyl zu beantragen oder sie würden uns alle trennen und innerhalb von 56 Stunden einzeln nach Russland schicken. Was absolut nicht stimmte, sie übten nur Druck auf uns aus. Das war eine schwierige Situation, mit drei Kindern auf der Straße zu stehen. Laut Gesetz können wir nun ein anderes Land bitten, unseren Fall zu übernehmen.

Wie sehen Sie Ihre Chancen in Tschechien?

Der Justizminister hat bereits erklärt, dass er keinen Grund sehe, uns auszuliefern, aber sie können uns laut den Dublin-Beschlüssen in die Schweiz schicken. Wenn sie nett sind, können sie unseren Fall übernehmen. Aber dafür muss ich auch sehr nett sein, ich muss gute Sachen sagen, aber ich habe bereits manches Schlechte gesagt. Das ist ein sehr interessanter Test.

Was für ein Test?

Ein zeitgenössischer Künstler macht dauernd soziale Experimente, selbst mit seinem eigenen Schicksal. Ich muss sehr provokativ sein, um herauszufinden, ob die Tschechen wirklich so sehr an die Freiheit glauben, wie sie immer sagen. Es gibt hier mehr Freiheit als zum Beispiel in Deutschland. Kommt Ihnen das auch so vor?

Manchmal vielleicht.

Die Tschechen glauben wirklich an den Liberalismus, als wäre es ihre Religion. Sie geben nicht nur vor, dass sie Liberalismus lieben wie zum Beispiel die Russen. Nun haben die Tschechen dieses Image. Und egal, welche Ideen ich habe: Sie müssen die Rechte von Menschen schützen, die in ihren Ländern wegen ihrer Weltanschauung, ihrer Ideen, Religion, ihres Geschlechts und so weiter verfolgt werden. Wir gehören zu diesen Menschen. Wir sind ein klassischer Fall von politischen Flüchtlingen. Das kann jeder sehen. Und man muss unser Recht auf freie Meinungsäußerung respektieren, ob man die Meinung gut findet oder wirklich dagegen ist. Das ist ein interessanter Test und auch ein sehr gefährlicher für uns, weil wir müde geworden sind und es langsam satt haben, in der Illegalität zu leben. Wir haben unsere Kraft verloren, mit drei Kindern, illegal, ohne Dokumente, ohne alles, manchmal ohne Dach über dem Kopf. Wir brauchen wirklich eine Pause zum Durchatmen.

Eine Pause – aber Sie wollen nicht aufhören, zu provozieren?

Wenn Sie sehen, dass jemand geschlagen wird, ist es Ihre Aufgabe, hinzusehen – Ihre Pflicht als Bürger. Die Pflicht und das Ziel eines Künstlers ist es immer, eine radikale Idee zu haben. Wenn Sie Freiheit lieben, müssen Sie sie ganz und für immer lieben. Ein Künstler hat keinen Urlaub.

Müssen sich die Tschechen auf eine große Aktion gefasst machen?

Wir hatten uns fest vorgenommen, kein Teil der europäischen Kunstszene zu werden, weil wir sie nicht mögen. Wir fanden nichts interessant genug für uns und beschlossen zu schweigen, obwohl das für Künstler wie Selbstmord ist. Alle unsere Aktionen und Pläne sind russisch.

Was heißt das?

Wenn man kein Russe ist, kann man sie nicht genießen, das ist wie mit Poesie. Ich kann Rilke nur in Übersetzungen lesen, aber das ist nicht genug. Auch Ausländer interessieren sich für unsere Aktionen, manche finden sie gut, aber ich frage mich, warum das so ist. Sie verstehen doch nur etwa zehn Prozent, weil ihnen der kulturelle Hintergrund fehlt.

Wird es in Russland noch Aktionen geben?

Wir haben auch ein paar wirklich russische Pläne, für den Fall, dass wir in unser Heimatland zurückkehren. Aber darüber kann ich leider nichts sagen.

Gibt es überhaupt noch Mitglieder von Wojna in Russland?

Ja, wir stehen mit ihnen in Kontakt. Sie setzen die Arbeit auf radikalere Weise fort, allerdings aus Sicherheitsgründen nur anonym.

Ein Wachmann kommt herein. Er trägt einen dunklen Anzug, sieht sich im Raum um. „Hier riecht es nach Gras“, sagt er auf Tschechisch. „Was machen wir da?“ Oleg und Natalja sehen sich an, sprechen auf Russisch miteinander. Sie verstünden ihn nicht, sagt sie auf Englisch. „Hier darf man nicht rauchen“, erklärt der Wachmann. „Oh, sorry, das wussten wir nicht“, antworten sie. „Wir sind eh fertig, ist schon in Ordnung.“ Als er die Tür schließt, muss Oleg lachen.

Das ist ein wundervolles Beispiel. Wir sind hier in einem Atelier. In Russland wäre es unvorstellbar, dass irgend so ein Typ kommt und einen Künstler zurechtweist. Das wäre, als würde man zu seiner Mutter sagen, sie soll die Klappe halten. In Russland – und das ist hier in Europa verloren gegangen – gehören Künstler noch immer zu den Gurus in der Gesellschaft.

Das Interview führte Corinna Anton. Die ungekürzte Fassung ist in unserem Partermedium, der „Prager Zeitung“, erschienen.

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