Im Hinterhof von Sotschi

Das Auswärtige Amt warnt davor, nach Abchasien zu reisen. Anders als für zahlreiche Russen, ist der selbsternannte Kleinstaat im Kaukasus für die deutschen Behörden kein Touristenziel, sondern ein Konfliktgebiet. Was erlebt, wer trotzdem fährt?

Von Hans Winkler

Es ist zu einem festen Ri­tual geworden: Alle Jahre wieder laden mich Moskauer Freunde ein, doch mit ihnen den Sommer in Abcha­sien zu verbringen. Sie schwärmen dann von menschenleeren Stränden, plätschernden Gebirgsbächen und Wein im Überfluss. Alles einen Katzensprung von Sotschi entfernt.

Der Westeuro­päer weiß im Zweifelsfall nicht, dass Abchasien zu Sowjetzeiten als subtropisches Urlaubsparadies galt, als Riviera des Ostens. Er kennt es aus den Nachrichten als Landstrich, der sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR von Geor­gien losgesagt hat, einen grausamen Separationskrieg mit Tausenden Toten und mehreren hunderttausend Flüchtlingen inbegriffen.

Warum erfreut sich diese Gegend heute einer solchen Beliebtheit bei vielen Russen? Bei mir siegte letztlich die Neugier, und so haben wir uns in den Zug nach Sotschi gesetzt. Von dort verkehren ständig Busse, Marschrutkas und Taxis zur Grenze. Für die Einreise nach Abchasien braucht der Ausländer, sofern er kein Russe ist, eine Erlaubnis des abchasischen Außenministeriums und muss sich dann binnen drei Tagen in Suchumi ein Visum besorgen. Für Georgien ist der Grenzübertritt von russischer Seite illegal.

Blick auf Gagra, den bekanntesten Ferienort in Abchasien. Am Stadtrand sind die Strände halbleer, außerhalb von Ortschaften erst recht. / Hans Winkler

In Abchasien wird russisch gesprochen und mit Rubel bezahlt. Die Auslagen der Geschäfte sind mit den gleichen Waren bestückt wie Moskauer Lebensmittelmärkte, sie kosten auch etwa genauso viel. Ansonsten sind die Preise oft deutlich niedriger als in Russland, nicht zuletzt in Cafés und Restaurants. Die Grundversorgung wird von Straßenhändlern und Kiosken geleistet, wie es den Russen noch aus den 90er Jahren vertraut ist. Während die ihnen jedoch heute als eine finstere Periode des Umbruchs erscheinen, deren Überwindung für viele Jahre auch politische Maxime war, sind die 90er in Abchasien offenbar auf unbestimmte Zeit konserviert.

Wir quartierten uns etwa 50  Kilometer von der Grenze in Tschagripsch, einem kleinen Dorf zwischen Gebirgshängen und dem Schwarzen Meer, ein. Es besteht aus einer Ansammlung von Hütten inmitten von Zypressen und Bambushainen. Viele haben schon seit Jahren ihre Besitzer nicht mehr gesehen. Dazwischen schlängeln sich Treppchen und Trampelpfade zur Fernstraße Sotschi  – Suchumi empor. Außerdem hat der Ort nur noch eine verlassene Bahnstation zu bieten. Wer Läden sucht, der muss in den  nahegelegenen Ferien­ort Gagra fahren oder bei Einheimischen nachfragen, die aus dem Schuppen heraus Konserven und Kekse verkaufen.

Das Meer liegt zwar vor der Nase, aber erst hinter der Bahnlinie, die Abchasien und Russland verbindet. So wird das Idyll täglich mehrfach durch vorbeirumpelnde Züge getrübt, ein Übel, das man übrigens an der gesamten Schwarzmeerküste von Tuapse bis Suchumi in Kauf nehmen muss. Da das Inland von schroffem Gebirge beherrscht wird, schlängelt sich die Bahn unverfroren am Strand entlang. Zug­reisende können den Badegästen fast schon unter die Wäsche schauen.

Fehlt in keinem Reiseführer: der malerische Riza-See in den Kaukasusbergen. / Hans Winkler

Fehlt in keinem Reiseführer: der malerische Riza-See in den Kaukasusbergen. / Hans Winkler

Gagra ist der touristische Hotspot des Landes. Das liegt zum einen an seiner Nähe zu Russland und zum anderen daran, dass es einiges zu bieten hat: Es gibt hier eine vergleichsweise gute Infrastruktur mit kleinen Geschäften, Cafés und Klubs, dazu eine Vielzahl architektonischer Sehenswürdigkeiten, von denen ein nicht unerheblicher Teil allerdings immer mehr verfällt. Ein Anblick, an den man sich in Abchasien leider genauso gewöhnt wie an die bunten Werbetafeln vor Ruinen.

Das Gesicht der Stadt geprägt hat ein russischer Adliger mit deutschen Wurzeln: Peter Friedrich Georg von Schleswig-Holstein-Gottorf, Prinz von Oldenburg. Verheiratet mit der Schwester des letzten Zaren, ließ er Gagra zu seinem Sommersitz umbauen, einem luxuriösen Erholungsort mit Schloss, Hotels, Gaststätten und wunderschönen Parks.

An der Uferpromenade können heute auch Ausflüge zu den gefragtesten Touristenzielen Abcha­siens gebucht werden. Das sind der malerisch im Kaukasusgebirge gelegene Riza-See und die bedeutende Klosteranlage Nowyj Afon aus dem 19.  Jahrhundert. Beide Orte sind während der Hochsaison ähnlich gut besucht wie der schiefe Turm von Pisa. Die Gäste: nahezu ausschließlich Russen, ein Großteil davon Tagesausflügler aus Russland selbst.

Einmal bin ich in Abchasien an eine Verkäuferin geraten, die sich sehr freute, als ich mich als Deutscher vorstellte. „Das ist aber schön, dass uns auch Ausländer besuchen kommen“, rief sie aus. Die Russen scheinen den Ortsansässigen nicht als solche zu gelten.

Verlässt man Gagra in Richtung Suchumi, werden die Eindrücke vom Land rauer. Es geht vorbei an grandiosen Landschaften und immer wieder verlassenen Gebäuden. Hier und da blockieren Kühe die Fahrbahn, einmal ist ein Teil der Straße ins Meer gestürzt.

Kurz vor Suchumi überquert man den Fluss Gumista. Hier fanden während des Unabhängigkeitskriegs gegen Georgien schwere Gefechte statt. Die Felswände zu beiden Seiten des Ufers sind mit den Porträts gefallener Kämpfer übersät. Plötzlich ist der Krieg ganz nah.

Der Bahnhof von Suchumi hat schon bessere Tage gesehen. / Hans Winkler

Der Bahnhof von Suchumi hat schon bessere Tage gesehen. / Hans Winkler

Der Anblick von Suchumi ist ernüchternd. Die abchasische Hauptstadt, deren Name Synonym für eleganten Strandurlaub war, ist heute ein Schatten ihrer selbst. Von den einstmals mondänen Sanato­rien und Hotels bröckelt im besten Falle nur der Putz, häufig stehen sie leer und sind mit zerschossenen Fassaden stumme Zeugen des Krieges. Imposant und beängstigend ragt noch immer das ausgebrannte Regierungsgebäude aus dem Stadtzentrum auf. Vom riesigen Bahnhof, einem architektonischen Aushängeschild, ist immerhin ein Seitenflügel in Betrieb.

Den Strand säumt eine breite Promenade, die von unzähligen Badegästen bevölkert wird. Vielleicht fühlen sie sich wie in den guten alten Zeiten, wenn sie aufs Meer hinausschauen, mit dem Rücken zur Stadt.

Als ich meinen Bekannten Arud, der als Armenier einer der zahlreichen Minderheiten in Abcha­sien angehört, frage, warum es so schleppend voran geht mit der Entwicklung, winkt er nur ab: „Weil man mit Abchasen keine Geschäfte machen kann.“ Für Investoren gebe es kaum Rechtssicherheit. Die Abchasen stehen in dem Ruf, ihre Ressourcen nur sehr zögerlich für Außenstehende zu öffnen. Nicht ganz grundlos fürchtet man den Ausverkauf der Heimat, die außer Wein und natürlicher Schönheit ohnehin nicht viel hat.

Und so schläft Abchasien seinen Dornröschenschlaf. Das ist nicht nur Fluch, sondern in gewisser Hinsicht auch Segen, weil von einem Bauboom wie an der russischen Schwarzmeerküste nicht die Rede sein kann. Selbst im zwischenmenschlichen Umgang ticken die Uhren langsamer, mit durchaus sympathischen Auswirkungen, wie ich feststellen durfte. In einem Degustations- und Verkaufsraum für Weine und Spirituosen wollte ich hausgemachten Tschatscha, einen landestypischen Weinbrand, kaufen. Der Händler füllte mir zwei Flaschen zum Literpreis von 300 Rubel ab. Als ich bezahlen wollte, fiel ihm auf, dass er nicht herausgeben kann. Also gab er mir mein Geld zurück und sagte müde: „Nächstes Jahr.“ Die Flaschen durfte ich behalten.

Abchasien

Nach einer wechselvollen Geschichte, unter anderem als Teil des osmanischen Imperiums, trat das Fürstentum Abchasien Anfang des 19. Jahrhunderts dem russischen Zarenreich bei. 1921 wurde in Suchumi die Sowjetrepublik Abchasien ausgerufen, im selben Jahr folgte der Anschluss an die Georgische Sowjetrepublik. In deren Grenzen wurde Abchasien 1931 von der Republik zur Autonomie gestutzt und über Jahrzehnte gezielt mit Georgiern besiedelt.

Nach dem Zerfall der UdSSR war Abchasien zunächst Teil des nun unabhängigen Georgiens, wollte aber zu seiner ersten Verfassung von 1925 zurückkehren, die gleichberechtigte Beziehungen zu Tiflis vorsah. Der Konflikt eskalierte, als die georgische Regierung 1992 Truppen in Marsch setzte.

In einem von beiden Seiten rücksichtslos geführten Bürgerkrieg kämpften auch kaukasische Freiwilligenverbände auf abchasischer Seite, einer ihrer Kommandeure war der spätere tschetschenische Rebellenführer Schamil Bassajew. Russland und die UNO vermittelten 1994 einen Waffenstillstand. Abcha­sien erklärte sich anschließend für unabhängig. Seine Selbstständigkeit wird aber nur von Russland und einigen wenigen Verbündeten anerkannt. Völkerrechtlich gehört es weiterhin zu Georgien.

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: