„Ich habe verlernt, mich vor dem Krieg zu fürchten“

In Donezk schlug früher das wirtschaftliche Herz der Ukraine. Heute ist es eine Stadt, die nicht Fördermengen zählt, sondern ihre Wunden. Und doch versuchen junge Leute auch dort, einen Beruf zu erlernen, sich eine Zukunft aufzubauen. Wie das aussieht, darüber spricht die 17-jährige Anastasija Kabdina.

Anastasija vor wenigen Tagen in Moskau. / Privat

Anastasija vor wenigen Tagen in Moskau. / Privat

Sie haben im Frühjahr die Schule abgeschlossen. Wie geht es jetzt für Sie weiter?
Ich komme aus Gorlowka, einer Stadt in der Nähe von Donezk. Die elfte Klasse habe ich mit einer Goldmedaille für besondere Leistungen beendet. Und das trotz der Granateneinschläge, trotz der ständigen Nervenanspannung, manchmal ohne Licht und Wasser, mit Unterricht bei Kerzenschein. Im vergangenen Winter saßen wir wegen der Gefechte einen Monat lang in den Kellern. Die Sommer­ferien habe ich bei meiner Schwester in Moskau verbracht. Am 1.  September trete ich ein Psychologiestudium an der Nationalen Universität Donezk an.

Im Donbass wird nach wie vor geschossen.
Ich habe schon verlernt, mich vor dem Krieg zu fürchten. Wissen Sie, man gewöhnt sich nur schwer an eine tägliche Lebensgefahr. Aber mir ist es mit der Zeit gelungen, Explosionen in einem anderen Teil der Stadt nicht mehr wahrzunehmen. Wenn jedoch ein Geschoss ganz in der Nähe zu Boden geht und du spürst, wie die Wände erzittern, dieses grauenvolle Geräusch des Aufpralls hörst, dann denkst du dir: Was, wenn so ein Ding in dein Haus fliegt? Wirst du am Leben bleiben? Wie ergeht es deinen Verwandten, deinen Freunden, deinen Nachbarn? Das ist ein Adrenalin der schlimmsten Sorte, kaum zu beschreiben.
Manchmal wundert man sich, dass die Menschen nicht resignieren. Sie leben weiter, arbeiten weiter, studieren weiter. Wie früher. Das nenne ich echten Lebenswillen!
Anfang Juni war ich auf dem ersten Abschlussball der Republik im Zentrum von Donezk, wo ein Konzert stattfand und unglaublich viele Leute zusammenkamen. Es war ein schöner, sonniger Tag, alle hatten gute Laune und lächelten. Für einen kleinen Moment hätte man meinen können, es gäbe gar keinen Krieg und habe ihn nie gegeben. Ein schrecklicher Alptraum, nichts weiter.

Der Universitätsbetrieb ist nicht eingeschränkt?
Vor einem Jahr wurde der Studienbeginn auf den 1. Oktober verschoben, wegen des heftigen Beschusses der Stadt. Ansonsten sind die Schulen und Hochschulen normal geöffnet. Ob sie ihre Kinder aus dem Haus lassen, entscheiden im Zweifelsfall die Eltern.

Viele haben dem Donbass den Rücken gekehrt. Das war für Sie kein Thema?
Ich bin in Donezk geboren, für mich war das schon immer die schönste Stadt der Ukraine. Seit meiner Kindheit habe ich davon geträumt, hier zu studieren. Das stand außer Frage. Doch dann kam der Krieg und hat alles über den Haufen geworfen. Aus meinem Bekanntenkreis ist die Hälfte der Leute weggezogen, bis auf wenige Ausnahmen nach Russland. Auch meine beste Freundin lebt jetzt in Moskau. Wir wären gern wieder zusammen, schon deshalb habe ich eine Zeit lang mit Moskau als Studienort geliebäugelt. Russland bietet Abiturienten aus der Ukraine staatlich geförderte Studienplätze in elf Städten an. Als mir aber aufgefallen ist, dass Moskau gar nicht dazugehört, stand für mich endgültig fest, dass ich in Donezk studieren werde.

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?
Mein Studium dauert fünf Jahre. Wo ich danach arbeiten und leben will, weiß ich noch nicht so genau. Ich könnte mir vorstellen, in ein englischsprachiges Land zu gehen, aber dazu müsste ich mein Englisch auf Vordermann bringen. Denkbar wäre auch, als Model zu arbeiten. Ich habe früher bereits gemodelt, doch dann habe ich es wieder aufgegeben, weil es mich langweilte. Mit meinem Studien­abschluss als Psychologin finde ich sicher eine Arbeitsstelle, zumal meine Schwester ebenfalls Psychologin ist. Sie leitet Weiterbildungsseminare. Wenn in Donezk endlich wieder Frieden herrscht, dann bleibe ich vermutlich dort. Ändert sich allerdings nichts, dann ziehe ich wahrscheinlich lieber nach Russland, nach Moskau.
Ich selbst verstehe mich als Russin, das ist meine Nationalität und die meiner Eltern. Nur mein Pass ist ukrainisch. Mehr möchte ich mit diesem Land auch nicht mehr zu tun haben.

Das Interview führte Miriam Gräf.

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