„Ich gebe mir jeden erdenklichen Spielraum“

Alexander Nitzberg hat zuletzt Werke von Michail Bulgakow ins Deutsche übertragen, allen voran „Meister und Margarita“ aber auch das weniger bekannte „Die verfluchten Eier“, die 2016 herauskamen. Im Interview erzählt er, warum das Lesen auch manchmal sperrig sein darf.

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Alexander Nitzberg wurde 1969 in Moskau geboren. 1980 reiste er nach Deutschland aus. Heute lebt er als freier Schriftsteller, Übersetzer, Publizist, Librettist und Rezitator in Wien. / A. Nitzberg

Sie seien ein „streitlustiger Übersetzer“, liest man über Sie. Aber kann man über Literatur sprechen, ohne sich zu streiten?

Ja, aber es macht dann weniger Spaß. Bei mir hat es sicherlich mit meiner Herkunft zu tun. In Russland werden Literaten im gesellschaftlichen Diskurs nicht immer in Watte gepackt, auch streiten sich die Literaten gerne miteinander. Man sollte dabei verstehen, dass es nicht ums Persönliche geht, sondern um eine Form von Wahrheitsfindung, die einen emotional berühren kann.

Dass Gefühle ein Rolle spielen, lässt sich auch an Ihrer Art zu übersetzen ablesen, oder?

Ich habe natürlich eine Emotion den Texten gegenüber. Das heißt nicht, dass ich in diese Werke verliebt bin. Es gibt durchaus Beispiele, wo sogar im Gegenteil eine Form von Antipathie herrscht. Hauptsache, der Text lässt mich nicht kalt oder lauwarm. Aber das bedeutet nicht, dass ich im Affekt übersetze. Es geht um die Frage: Welche Wirkung erzeugt ein Werk und wie lässt sie sich mit den Mitteln der Literatur auch in einer anderen Sprache erzielen?

Gehen Sie an eine Bulgakow-Übersetzung anders heran als beispielsweise an Dostojewskij?

Ich gehe bei jedem Werk anders vor. Es ist eine Freiheit, die ich mir gönne. Ich fange unvorbelastet an und entscheide von Fall zu Fall. Es sind unterschiedliche Autoren und selbst im Gesamtwerk eines  Autors kann es große Unterschiede geben. Dann spielt auch die Geschichte des Werkes eine Rolle: Dostojewskijs „Der Spieler“ wurde zum Beispiel unzählige Male vor mir übersetzt. Mit einem solchen Werk gehe ich anders um, als wenn ich ein Buch zum allerersten Mal übersetzen müsste, als Pionierarbeit.

Inwieweit ist Übersetzung nicht bloße Übertagung eines Textes in eine andere Sprache, sondern Interpretation?

In der Kunst ist alles Interpretation. Es gibt allerdings unterschiedliche Begriffe davon. Wenn wir heute von Interpretation sprechen, verstehen wir das oft als persönliche Meinung. Aber man kann Interpretation auch ganz anders verstehen: Da heißt es zum Beispiel, Martha Argerich (schweizerisch-argentinische Pianistin, die Redaktion) interpretiert Chopin. Das bedeutet doch nicht, dass sie auf Teufel-komm-raus ihre eigene Sichtweise durchsetzt und andere ausschließt. Wenn man sich verschiedene Aufnahmen anhört, erkennt man: Es ist schon dasselbe Werk. Aber der Künstler hat eben seine Spielräume. Übrigens gibt es keine nichtinterpretierende Übersetzung. Es gibt nur eine, die so tut, als würde sie nicht interpretieren.

Sie haben eine musikalische Ausbildung. Hilft das beim Übersetzen?

Sehr sogar. Ich beschäftige mich viel mit Musik, mit den Prinzipien der Komposition. Ich habe seinerzeit Kompositionsunterricht gehabt, und es hat Jahre gedauert, bis mir ein Licht aufging und ich feststellte, dass dieser Unterricht beim Dichten und Übersetzen, bei der Arbeit mit Sprache, mir weit mehr geholfen hat, als zum Beispiel mein Germanistikstudium. Das ist wirklich etwas, was für mich unersetzlich ist.

Wenn Sie sagen, jede Übersetzung ist Interpretation, unterscheiden sich Übersetzungen dann, je nachdem, in welcher Zeit und in welchem Umfeld sie entstanden sind?

Es gibt die Vorstellung, dass jede Zeit ihre eigenen Übersetzungen braucht. Aber da trifft man auf ein Paradoxon: Manch eine alte Übersetzung kommt uns heute verstaubt vor, während das oft wesentlich ältere Original nach wie vor frisch wirkt! Die Lösung dieses Problems ist die Frage nach der Kunst. In dem Moment, in dem die Übersetzung selbst ein sprachliches Kunstwerk ist, gilt für sie dasselbe wie für das Original. Dann kann man sie nach 100 oder 200 Jahren immer noch lesen. Der Homer von Voss beispielsweise oder der Shakespeare von Schlegel-Tieck. Die kann mir keine moderne Übertragung ersetzen.

Inwieweit ist es sprachlich ein Unterschied, ob ich Literatur oder Geschäftspost übersetze?

In der Kunst ist Sprache Material, im anderen Fall ein Medium. Das ist schon ein großer Unterschied, ob Sprache nur Transportmittel ist oder ob mit ihr künstlerisch gearbeitet wird. Mit ihrem Klang, Rhythmus, ihren Bilderwelten. Dann wird nämlich eine subtile Kraft freigesetzt. Eine Schwingung, die über Jahrhunderte bestehen bleibt.

Kritiker sagen, Sie erzeugen eine Sperrigkeit im Text, die im Original gar nicht vorhanden ist.

Das war eine einzige Kritikerin, die das sagte … Aber seis drum: In dem Moment, in dem mit der Sprache etwas passiert, wird ein anderes Lesen vorausgesetzt. „Meister und Margarita“ ist ja kein Boulevard-Roman. Er darf ruhig für den Leser eine Herausforderung sein. Andere haben im Gegenteil gesagt, durch die neue Übersetzung hätten sie erst verstanden, dass im Roman auch sprachlich etwas passiert und nicht nur eine Geschichte erzählt wird. Im „Meister“ gibt es Kapitel, die sind witzig, und die Ereignisse  überschlagen sich. In anderen Passagen erzählt Bulgakow alles in Zeitlupe, wie in den biblischen Ereignissen um Pontius Pilatus. Dort wird die Sprache auch mal sperrig, die Menschen reden im anderen Tempo. Das muss man in der Übersetzung doch berücksichtigen. Moskau und Jerschalajim unterscheiden sich bei mir auch in ihrem jeweiligen Lebensrhythmus.

Übersetzung soll sich also nicht nur am Inhalt orientieren. Aber wo ist die Grenze? Welchen Spielraum geben Sie sich?

Jeden erdenklichen. Weil Sprachen unterschiedlich funktionieren. Es ist die Substanz der Werke, die nacherschaffen werden soll. Das verstehe ich unter Werktreue. Wenn Bulgakow einen riesenlangen Satz schreibt, der aus vielen Nebensätzen besteht, hat dieser bei ihm eine innere Spannung, weil sich die Teilsätze logisch entwickeln. In dem Moment, in dem ich diesen langen russischen Satz in einen langen deutschen Satz verwandele, kommen sofort Fallstricke, weil ich mich im Deutschen an den deutschen Satzbau und die Grammatik halten muss. Diese Probleme kann ich zwar lösen, aber es gehen die Feinstrukturen aus dem Russischen verloren und damit im schlimmsten Fall auch die Spannung. Dann hätte ich für die Rettung dieses langen Satzes einen verhältnismäßig hohen Preis gezahlt. Ich halte es demgegenüber für viel wichtiger, dass die innere Spannung, die Geschmeidigkeit im Text, erhalten bleibt und gebe den Satz gegebenenfalls in mehreren kürzeren Sätzen wieder.

Bulgakow hat die Verhältnisse in der Sowjetunion kritisiert, wurde andererseits von Stalin angerufen und bat ihn, weiter arbeiten zu können. Wird dieser Zwiespalt in seinen Romanen deutlich?

Ja gewiss. Wir dürfen Menschen aber nicht schwarz-weiß sehen, auch wenn unsere Zeit das gerne tut. Da wird eine Person als Systemkritiker abgestempelt. Punktum. Das sagt alles über den Menschen aus, und er ist damit voll und ganz charakterisiert. Das stimmt natürlich überhaupt nicht. Menschen sind vielschichtig, haben Ecken und Kanten. Bulgakow war so ein Mensch und lebte in einer Zeit, die voller Ecken und Kanten war und in der vieles nicht nacheinander sondern parallel passierte. Natürlich war er auch zerrissen in diesem ganzen Kontext. Er war Schriftsteller, kein Kritiker. Seine Arbeit bestand darin, literarische Werke zu schreiben. Welten und Gestalten zu kreieren – nicht vordergründig jemanden zu kritisieren.

Würde er im heutigen Russland auch in diesem Zwiespalt stecken?

Mit Sicherheit. Weil diese Dinge nicht an Zeiten und Orte gebunden sind. Deshalb finde ich es platt, wenn man seine Werke so versteht: Wir machen uns über die Menschen damals lustig, fühlen uns in unserer Gesellschaftsordnung bestärkt und glauben, wir machen es besser. Ich denke, das wäre der falscheste Weg, diese Romane zu lesen. Die Frage, die Bulgakow stellt, ist: Und was tun wir heute? Jeder von uns, in unserem Leben. Es sind dann nicht die Menschen zur Stalinzeit im fernen Russland, die korrupt sind. Die Frage ist eher: Was ist mit mir? Bin ich feige? Bin ich korrupt?

Das Interview führte Thomas Arzner

Nitzbergs Bulgakow-Übersetzungen beim dtv-Verlag und „Das fahle Pferd“ von Boris Sawnikow (Galiani, 2015) / T. Arzner

Nitzbergs Bulgakow-Übersetzungen beim dtv-Verlag und „Das fahle Pferd“ von Boris Sawnikow (Galiani, 2015) / T. Arzner

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