Große Erwartungen

Eine Flucht kann auch eine Rückkehr sein. In ihrem Debüt „Der Sommer mit Pasha“ fragt Yelena Akhtiorskaya, wie sehr Identität an einen Ort gebunden ist. Eine starke Familiengeschichte zwischen Brighton Beach und Odessa.

Von Irina Kilimnik

Adam Jones

Fast wie Odessa: der Brighton Beach im New Yorker Stadtteil Brooklyn / Adam Jones

Es gibt einen russischen Emigrantenwitz, der geht so: Ein Ehepaar aus Odessa wandert nach New York aus. Zwei Wochen später rufen sie ihren daheim gebliebenen Freund an: „Sjoma, wir sind im Paradies! Wir sind am Brighton Beach! Vorgestern waren wir im Restaurant. Für nur fünfzehn Dollar aßen wir Blinis, Leber mit Zwiebel, Piroggen, und Schaschlik! Alle unsere Bekannte sind da, sogar Zilja aus Moldawanka.“ Sjoma schreit in den Hörer zurück: „Und wie ist denn Amerika so?“ „Keine Ahnung … Wir gehen da gar nicht hin.“
Auch Yelena Akhtiorskayas Erstling „Der Sommer mit Pasha“ ist am Brighton Beach angesiedelt. Hier strandet eines Tages eine Drei-Generationen-Familie aus Odessa. Die Nasmertows, das sind Robert und Esther, ihre Tochter Marina mit Ehemann Levik und die siebenjährige Frida. Sie alle kehren der Stadt am Schwarzen Meer den Rücken und finden sich einige Flugstunden später inmitten von Pelmeni, Wareniki und Dillkartoffeln wieder. Nur Marinas Bruder Pasha bleibt zurück. Er soll bald samt Frau und Kind nachkommen. Während die Neuankömmlinge von Freunden und Verwandten überschwänglich empfangen werden, zweifeln sie an ihrer Entscheidung und fragen sich, ob die eisige Klimaanlage, die ihren Atem gefrieren lässt, und die krachenden Metrowaggons vor der Haustüre den Verlust der geliebten Datscha und der Potjomkinschen Treppe jemals ersetzen werden können.
Im russischen Exilmilieu kennt sich Akhtiorskaya aus. Mit sieben nach New York gekommen, wuchs sie selber in Little Odessa auf, jenem nostalgisch angehauchten Stadtteil, dessen Bewohner „eine exakte Kopie des chaotischen, mangelhaften Originals zu erschaffen versuchen“, das sie hinter sich gelassen haben. Dort hocken sie buchstäblich aufeinander, räumlich, familiär und gesellschaftlich. Diese selbst errichtete Enge des Daseins bettet die Autorin in drei Sommerperioden ein. Der Schauplatz der beiden ersten ist New York, die neue Heimat, wo die Nasmertows nun seit zwei Jahren leben und immer noch akribisch jeden Tag zählen, als wäre ihr Dasein hier von begrenzter Dauer und bald überstanden. Und immer noch warten sie darauf, dass Pasha endlich nachkommt.
Leicht und mit subtiler Ironie lässt Akhtiorskaya ihre Charaktere agieren. Sei es  die etwas matriarchalisch angehauchte Esther, die besser weiß, was den anderen gut tut, oder Pasha, ihr heiß geliebter „Goldjunge“, der zwei Mal zu Besuch erscheint. Pasha ist der Gegenspieler zur familiären Enge. Er hat den eigentlichen Bruch bereits vor Jahren vollzogen und sich russisch-orthodox taufen lassen. Um „sein genetisches Erbe“ zu ersticken, „bevor es ihn ersticken konnte“. Auch am Brighton Beach gelingt es dem linkischen Dichter, der ständig in Missgeschicke á la Pierre Richard gerät, sich jeglichen Versuchen seiner Familie, ihn einzugliedern, zu entziehen.
Die Notwendigkeit auszuwandern sieht Pasha im postsowjetischen Zeitalter nicht mehr gegeben. Warum sollte er ins trübe, laute New York umziehen, das er ohnehin nicht mag? Ja, warum eigentlich?, fragen sich langsam auch die Nasmertows selber. Verschafft ihnen ihr Sohn doch die bitter gebrauchte Erleichterung, nicht ganz mit ihrer Heimat gebrochen zu haben. „Das Gefühl des Festhaltens, nicht ausgetauscht oder verraten, sondern nur den eigenen Lebensraum erweitert zu haben, hielt die hochansteckende Emigrationsparanoia auf Abstand.“
Trotz der Selbstzweifel und Nostalgie, die Akhtiorskaya eindringlich beschreibt, trotz manchmal aufkommendem Bedauern, vielleicht zu viel von ihrem Selbst aufgegeben zu haben, ist der Blick der Nasmertows stets nach vorne gerichtet. Nur bei Frida, dem Nesthäkchen, das eigentlich die geringsten Anpassungsschwierigkeiten haben sollte, ist es umgekehrt. Zu viele unbeantwortete Fragen beschäftigen sie. Es quält sie, dass sie sich kaum an das vermeintlich bessere frühere Leben erinnern kann. Gefangen zwischen ihrem ungeliebten Studium und der elterlichen Fürsorge, sucht die inzwischen erwachsen gewordene Frida einen Ausweg aus ihrer Passivität, aus der öden Realität.
In der dritten Sommerperiode lässt Akhtiorskaya Frida nach Odessa aufbrechen, ihrem Wunschort, der mit der Wirklichkeit allerdings nicht viel gemein hat. Klar, dass ihre hohen Erwartungen nicht erfüllt werden. Sie stößt auf das Desinteresse von Pasha und auch die Datscha entpuppt sich als unromantische Bruchbude. Frida wird klar, dass sie eigentlich in die Heimatstadt ihrer Eltern gekommen war, um enttäuscht zu werden, wollte sie doch aus dieser Enttäuschung neue Kraft für Amerika schöpfen. Doch Odessa tut ihr den Gefallen nicht.
Mit „Der Sommer mit Pasha“ erschafft Akhtiorskaya einen eigentümlichen Kosmos familiärer Interaktionen, skurril und mit manch humoristischem Moment, aber auch voller Tiefe und Verständnis für die unleichte Aufgabe, zwischen Vergangenheit und Zukunft ein Hier und Jetzt zu finden. Davon lässt man sich gern forttragen. Und dabei stört es fast nicht, dass der Verlag im Programmheft Odessa auf die Krim verlegt hat.

Das Buch

Yelena Akhtiorskaya,
Der Sommer mit Pasha, Rowohlt, 2016

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