Geschichte der Revolution in Tagebüchern

Das Projekt "Prozhito" sammelt und digitalisiert Tagebücher aus dem 20. Jahrhundert. Die MDZ hat darin gelesen, um zu erfahren, wie die Menschen die Oktoberrevolution erlebt haben.

Tagebücher

Alltag in Zeiten der Revolution: Menschen stehen Schlange vor einem Lebensmittelgeschäft in Moskau. /Foto: RIA Nowosti

1917 war in Russland ein anarchisches Jahr. Täglich kam es in Petrograd zu Morden und Plünderungen. Die Menschen spürten, dass die Februarrevolution scheitern wird. Auf den Straßen sprach man davon, dass die Provisorische Regierung versagt habe. Die Februarrevolution habe nur eine Woche gedauert und wurde zusammen mit ihren Opfern begraben, war eine weitverbreitete Meinung.

Der damals 30-jährige Historiker Georgij Knjasew sah die neuen Machthaber, für die er keine Sympathien hegte, kommen. Am 5. Oktober schrieb er in sein Tagebuch: „Wenn ich an Aushängen vorbeigehe, auf denen in Großbuchstaben steht, dass Genosse Lunatscharski oder Genosse Kamenjew einen Vortrag hält, wird mir körperlich schlecht. Es ist als wenn mich jemand offen mit einer dreckigen Peitsche schlägt. Peinlich und schmerzhaft. Wohin haben Lügen und Demagogie dieser Leute geführt? Sogar unsere Ehre haben wir verloren.“

„Die Lage ist unglaublich, einfach abenteuerlich“

Viele Russen waren sich sehr bewusst, dass sie Zeugen einer Zeitenwende wurden. Es sei nicht eine neue Seite in der Geschichte aufgeschlagen, sondern ein neuer Band begonnen worden, schrieb der Schriftsteller Wikentij Wesarjew in seinen Memoiren, die 1960 veröffentlicht wurden. Auch für Georgij Knjasew war es schwer im Jahr 1917 zu leben. „Später würde man sagen, dass die Menschen diese Zeit überstanden haben“, schrieb der Historiker, was ihm in diesem Moment aber wenig Mut zusprach.

Nach der Oktoberrevolution nahmen die Menschen die Stimmung in Petrograd als unheimlich war. Der damals 25-jährige Schriftsteller Rjurik Iwnew notierte am 8. November, dass nach außen hin alles ruhig wirkte. Aber er beobachtete auch, dass völlige Unklarheit über die Zukunft herrschte. Am darauffolgenden Tag schrieb er in sein Tagebuch: „Die Lage ist unglaublich, einfach abenteuerlich. Mir scheint, als sei das alles nur ein Traum. Gleich werde ich erwachen und die Sonne sehen, gelbe Vorhänge, den Samowar, gewöhnliche Menschen, dicke und dünne, kranke und gesunde. Aber nicht irgendwelche wahnsinnigen Bolschewiki, Menschewiki, Kadetten, Revolutionäre und Konterrevolutionäre.“

„Kein Lichtblick und kein Sonnenaufgang“

In Petrograd blieb es nach dem Machtwechsel relativ ruhig. Die Straßen füllten sich schnell wieder mit Leben. Doch in Moskau kam es zu langen und heftigen Kämpfen zwischen den Revolutionären und den Befürwortern der alten Ordnung. Der Schauspieler Walentin Smyschljaew, damals 25 Jahre alt, berichtet, dass am 11. November die Kanonen donnerten. Die Bolschewiki bombten die „letzten Verteidigungsnester der Bourgeoisie“ aus. Mit Entsetzen musste Smyschljaew feststellen, dass der Kampf auch sein Theater ergriff. Seine Kollegen mussten sich schnell für eine Seite entscheiden.

Nicht alle Moskauer hatten so viele Möglichkeiten, sich in der Stadt zu bewegen wie Smyschljaew. In den besonders umkämpften Vierteln saßen die Menschen tagelang in ihren Wohnungen fest. Der 44-jährige Jurij Gotje notierte am selben Tag, dass sich für ihn die Lage nicht verändert hatte. Er rechnete sogar mit einer Zunahme der Kämpfe. Die Moskauer waren zum Nichtstun verdammt. „Alle waren in der gleichen dummen und unbestimmten Stimmung; kein Lichtblick und kein Sonnenaufgang. Ich denke, man kann unsere Situation mit der Pariser Kommune vergleichen. Petro­grad hat während der Revolution nicht das durchlebt, was wir durchgemacht haben, als Moskau unter sechstägigem Beschuss russischer Kanonen stand!… Der Tag zieht sich, es ist langweilig. Gut, dass es schon fast zehn ist“, so der Historiker in seinem Tagebuch.

„Wild, unkultiviert und grausam“

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Laut Schriftsteller Michail Prischwin bewies die Revolution, „dass der Mensch wirklich vom Affen abstammt“. /Foto: Wikimedia

Viele Menschen machten sich Ende 1917 Gedanken darüber, wie sehr die Ereignisse des Jahres die Menschen verändert hatten. Der 59-jährige Dichter Alexander Schirkewitsch aus Simbirsk beobachtete, wie die Menschen in den Städten und Dörfern zunehmend verarmten und verrohten. Nach der Revolution erhoben sich die Armen „wild, unkultiviert und grausam“ gegen diejenigen, von denen sie zuvor ausgebeutet wurden.

In Petrograd fragte sich der 59-jährige Schriftsteller Michail Prischwin angesichts der Zustände im Land, wie denn der Gott heiße, an den er sich sein ganzes Leben gewandt hatte. Dieser Gott war anscheinend nicht mehr da. Der Schriftsteller empfand, dass sich der Mensch, der einst in der Französischen Revolution geschaffen wurde, in Zeiten der russischen Wirren wieder zurückentwickelte. Oder, wie es Prischwin ausdrückte, die Revolution sei eine „Erzählung davon, wie Russland bewies, dass der Mensch wirklich vom Affen abstammt“.

 

„Es tat mir weh, physisch, bis zum Schwindel“

Es gab aber auch Russen, die den Ideen der Bolschewiki zwar durchaus etwas Gutes abgewinnen konnten, jedoch nicht vollends von ihrer Umsetzung überzeugt waren. Rjurik Iwnew traf neun Tage nach der Revolution eine ältere bettelnde Frau auf der Straße. Diese Begegnung ließ ihn nachdenken. „Es tat mir weh, physisch, bis zum Schwindel“, vertraute er seinem Tagebuch an. Und er überlegte: „wenn die jetzige revolutionäre Bewegung uns wirklich näher an den Tag bringt, an dem es unmöglich ist, dass eine alte Frau kein Geld hat, dann nehme ich alles in Kauf – auch den Schrecken des Bürgerkriegs, und Blut, sogar ‚unschuldige Opfer‘, und sogar die Zerstörung des Kreml und der Basilius-Kathedrale“.

Letztendlich waren seine Zweifel aber größer: „Falls…falls…falls…falls die zweite Revolution uns wirklich diesem Tag einen Schritt näher bringt. Aber ich bin nicht überzeugt, und meine Seele fühlt sich leer und gequält“, so endet die Aufzeichnung Iwnews vom 16. November 1917.

Daniel Säwert

Post in den Gulag: “Lebt Papa noch?”

 

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