Frankfurter Buchmesse: Literatur aus Osteuropa mit schwerem Stand

Die Frankfurter Buchmesse gilt als das Mekka der Verleger und Schriftsteller. Dieses Jahr war zu beobachten, dass das Interesse an osteuropäischer Literatur nachgelassen hat. Die deutschen Feuilletons blicken derzeit lieber über den großen Teich nach Westen.

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Die Frankfurter Buchmesse, die dieses Jahr vom 19. bis 23. Oktober stattfand, zog über 277.000 Besucher aus 100 Ländern an / Irina Kilimnik

Einmal im Jahr, wenn Mitte Oktober die Frankfurter Buchmesse stattfindet, wird das Hotel „Frankfurter Hof“ für wenige Tage zum Mittelpunkt von Geist, Glanz und Geld. Das Haus ist bereits Monate im Voraus ausgebucht, und das trotz horrender Preise. Die Stars der Literaturszene samt ihren Agenten und den hochkarätigen Verlegern übernachten hier. In der überfüllten Hotellobby treffen die Agenten auf die Lektoren und handeln die Vorschüsse für ihre Autoren aus. Da geht es manchmal um sechsstellige Summen oder mehr. Es werden Kontakte und Verbindungen geknüpft und nach potentiellen Bestsellern Ausschau gehalten. Wer schafft es diesmal? Welchen Autor sollte man auf die Liste setzen? Welche Bücher sollten gelesen werden?

Sehr begehrt sind während dieser Woche auch die traditionellen Verlagsempfänge. Die Voraussetzung: Man steht auf der Einladungsliste. Der Suhrkamp-Kritikerempfang gilt als der wichtigste überhaupt, und wer es in die alte Villa der Verlegerlegende Siegfried Unseld schafft, gehört dazu. Traditionell mittwochs lädt der Rowohlt Verlag ein, am Donnerstag fällt die Wahl schwer zwischen Hanser, C.H. Beck und der Frankfurter Verlagsanstalt. Letztere bringt übrigens die Bücher des diesjährigen Buchpreisträgers, Bodo Kirchhoff, heraus und verlegt auch Nino Haratischwili, eine brillante aus Georgien stammende Autorin, die für ihre Romane zahlreiche Auszeichnungen erhielt.

Auch in den gut mit Büchern bestückten Messehallen, die in den ersten drei Tagen nur für Fachbesucher geöffnet sind, tummelt sich Prominenz. Auf dem Stand des Kultursenders 3sat treten in halbstündigem Wechsel renommierte Autoren vor die Kamera, das Zweite Deutsche Fernsehen bittet zu Talkrunden auf dem „blauen Sofa“. Und an den Ständen der Zeitungen „Welt“, „Süddeutsche Zeitung“, „Die Zeit“ und „FAZ“ stellen Star-Journalisten die Bücher von Star-Autoren vor. Da dieses Jahr die Messeverwaltung das umfangreiche Veranstaltungsprogramm nicht mehr wie früher gedruckt herausgibt und kostenlos verteilt, klagen die Besucher über die Unübersichtlichkeit. Heute läuft alles digital, was den Überblick über die auf der Buchmesse-App angekündigten 4000 Veranstaltungen erschwerte. 7100 Aussteller aus 100 Ländern kamen dieses Jahr auf die Buchmesse. 9000 Journalisten und 1000 Blogger berichteten über das wichtigste Ereignis des Jahres in der Buchbranche.

In der Woche der Buchmesse blickt ganz Deutschland auf die Literatur. Diesmal versuchte der „Spiegel“ eine Debatte loszutreten und veröffentlichte einen Kanon der 50 wichtigsten Romane seit 1989, darunter Salman Rushdie, Joanne Rowling, Jonathan Franzen, Michel Houellebecq. Aber es findet sich kein Buch eines osteuropäischen Autors – mit Ausnahme der weißrussischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Kein Pole, kein Ungar, kein Russe, kein Autor vom Balkan. „Was sagt uns das über den (west-)deutschen Blick auf die Welt, auf Europa, auf die Gegenwart?“, fragte der Literaturchef der „Welt“ Richard Kämmerlings. „Kein Kertész, Esterházy, Nádas, Sorokin, kein Pelewin, kein Jerofejew, kein Cărtărescu, kein Gospodinow, keine Bator oder Maslowska.“

Ist die osteuropäische Literatur auf dem deutschen Buchmarkt tatsächlich unterrepräsentiert? Ein Blick in die Messe-Sonderbeilagen der Feuilletons bestätigt das zunächst. Unter den 179 Rezensionen, die der Buchreport, ein Magazin aus der Verlagsbranche, gezählt hat, finden sich nur einzelne Titel. Zwei angelsäch-sische Autoren führen mit jeweils drei Rezensionen die Liste an. Und auch auf den Talk-Formaten der Buchmesse sind Autoren aus Osteuropa kaum vertreten. Zufall?

„Dem deutschen Leser seien die erzählerischen Brüche in moderner russischer Literatur fremder als die westlichen Erzählweisen.“

Bei Rowohlt ist man anderer Meinung und verweist auf die Tatsache, dass viele große Verlage einen oder mehrere osteuropäische Autoren im Programm haben. Allerdings, die große Zeit der Neuentdeckungen sei vorbei. In den neunziger Jahren, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, wurden viele Autoren neu entdeckt. Die Zeitschrift „Lettre“ erschien mit dem Fokus auf Mitteleuropa. Die Imprint-Verlage „Rowohlt Berlin“ und „Hanser Berlin“ wurden extra gegründet, um den Blick in den Osten, damals eine Terra incognita, zu richten. Inzwischen ist deren Programm breiter geworden. Auch andere Verlage meinen, dass die Hochkonjunktur osteuropäischer Autoren vorbei sei. Dennoch haben viele ihre Russen, Ungarn oder Tschechen im Programm. S. Fischer unterhält beispielsweise eine Stiftung, die sich um Übersetzungen unter anderem auch aus Osteuropa kümmert. Das aktuelle Programmheft enthält Olga Martynovas „Der Engelherd“. Auch Sergej Lebedews „Menschen im August“ und Boris Pasternaks Werkausgabe sind unter den früher erschienenen Titeln zu finden.

Viele Verleger geben zu, dass sie im westlichen Ausland mit Literaturscouts arbeiten. Das sind lokale Experten, die interessante Autoren an Land ziehen. Was Osteuropa betrifft, so hat sich dieser Beruf dort noch nicht etabliert. Diese Beobachtung teilt auch der C.H. Beck Verlag, der im nächsten Jahr ein Sachbuch zum 100-jährigen Jubiläum der Russischen Revolution herausgeben wird. Auch Riikka Pelos Roman „Unser tägliches Leben“, der das Leben der russischen Dichterin Marina Zwetajewa und ihrer Tochter im Exil erzählt, kommt im Frühjahr in den Buchhandel.

Schwierig sei vielleicht auch in den zeitgenössischen russischen Romanen die Erzählweise, sagt ein versierter Literaturkenner bei Rowohlt. Das Surreale und Schräge, das man etwa von Gogol oder Bulgakow kenne, sei heute noch drastischer, ausgefallener geworden, sodass der deutsche Leser die erzählerischen Brüche nur schwer nachvollziehen könne. Dagegen ähneln sich die westlichen Erzählweisen und seien dem deutschen Leser daher viel vertrauter.  Dennoch sind die Verleger ständig auf der Suche, auch wenn es nicht leicht ist. Aufregend sollen die neuen Autoren sein und eine besondere Perspektive müssen ihre Texte vermitteln. Allerdings so dass sie der Westler versteht.

Laut einer Liste auf Perlentaucher, einem Online-Magazin für Kultur, sind in den letzten drei Jahren über 60 russische Romane auf Deutsch erschienen, darunter die von Gaito Gasdanow, Julia Kissina, Elena Chizhova oder Viktor Pelewin. Erschienen sind die Titel in den namhaften deutschen Verlagen: Hanser, dtv, Suhrkamp, Matthes & Seitz sind nur einige von ihnen. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass die Verlage ihre „Russen“ haben. Bei Matthes & Seitz sieht es am besten aus. Sogar ein kleines Verzeichnis mit bereits „erschienener russischer Literatur“ hat er drucken lassen. Olga Slawnikowas „2017“ und Pawel Salzmans „Die Welpen“ stehen im aktuellen Programm. Und ja, der Verlag möchte die Reihe fortsetzen und plant schon neue Titel russischer Autoren.

Und was den „Spiegel“-Kanon der wichtigsten Romane betrifft, so sind die Verleger der Meinung, die subjektive Sicht des „Spiegel“-Redakteurs sei wohl schon in einer Woche vergessen.

Irina Kilimnik

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