Hört die Signale: Das Vorgehen gegen die Europäische Universität und die Lehren

Die staatliche russische Bildungsaufsichtsbehörde Rosobrnadsor hat der Europäischen Universität in St. Petersburg die Lehrzulassung verweigert. Für den Soziologen und Philosophen Grigorij Judin von der Higher School of Economics ist das eine „Katas­trophe“ für Wissenschaft und Bildung in Russland, wie er in einem Beitrag für die Internetzeitung Meduza schreibt. Lesen Sie den Text hier in deutscher Übersetzung und leicht gekürzt.

Früher mal haben rund um die Europäische Universität alle an einem Strang gezogen, so wie diese Studentinnen bei einem Unifest. / www.facebook.com/eu.spb.ru

Die Europäische Universität ist eine der führenden Hochschulen in Russland.

Über die Bildungs- und Wissenschaftsreform der letzten Jahrzehnte lässt sich viel Schlechtes sagen. Immerhin jedoch ist ihr zu entnehmen, dass die russische Wissenschaft ein Teil der weltweiten Wissenschaftsgemeinde sein und in ihr eine führende Rolle spielen soll. Dafür müssen die Forschungsergebnisse in weltweit führenden Zeitschriften und Verlagen veröffentlicht werden. Anhand dieses Kriteriums bewertet der Staat die russischen Universitäten. Demnach ist die Europäische Universität eine der besten Hochschulen des Landes, wenn nicht sogar die beste.

Der Angriff auf die Europäische Universität ist ein Signal, dass der Staat es mit seiner eigenen Strategie zur Entwicklung der Wissenschaft nicht ernst meint und bereit ist, diejenigen zu knebeln, welche die Zielvorgaben effektiv umsetzen.


Die Europäische Universität hat ein für Russland einmaliges Finanzierungsmodell geschaffen.

Der Staat fordert schon seit langem die Optimierung der Kosten. Die Europäische Universität hat bewiesen, dass Wissenschaft und Bildung in Russland auch ohne staatliche Finanzierung und ausländische Mittel möglich sind. Sie finanziert sich hauptsächlich über Sponsorengelder, Verträge über Forschungsarbeiten und Analysen sowie die Universitätsstiftung. Diese Stiftung ist der Stolz der Universität. Durch die treuhänderische Verwaltung der Stiftungsmittel behält die Europäische Universität ihre finanzielle Unabhängigkeit.

Der Angriff auf die Europä­ische Universität ist ein Signal, dass der Staat keinerlei Interesse an wirtschaftlicher Effizienz hat und dass selbst die Verweigerung der Annahme ausländischer Gelder nicht vor Vorwürfen schützt.


Die Europäische Universität kopiert westliche Erfahrungen nicht, sie hat ihre eigenen Ansprüche.

Bildung und Wissenschaft in Russland schwanken von jeher zwischen zwei Extremen. Da ist die selbsterniedrigende Nachahmung der „wahren“ westlichen Wissenschaft auf der einen Seite und gekränkte Distanzierung vom Westen auf der anderen. Die Europäische Universität zeigt, wie man diesem Dilemma entrinnen kann. Ihre Professoren beherrschen nicht nur die Sprache der weltweiten Wissenschaft, sie verändern sie auch und bringen sie somit voran.

Der Angriff auf die Europäische Universität ist ein Signal, dass der Staat keine Führungsrolle russischer Wissenschaftler in der Welt möchte und Russland als Land zweiter Klasse betrachtet.


Die Europäische Universität ist in der Lage, die besten Professoren anzuziehen und ihr Personal effektiv zu managen.

Das Hauptproblem russischer Hochschulmitarbeiter ist ihre völlige Überlastung durch die Lehrtätigkeit. Darunter leidet der Wunsch, sich mit ernsthafter Wissenschaft zu befassen oder den Bildungsprozess zu verbessern. Dafür ist keine Zeit. An der Europäischen Universität sind die besten russischen Wissenschaftler vieler Spezialisierungen versammelt. Und sie haben genügend Zeit für ihre wissenschaftliche Arbeit sowie für zwei bis drei Vorlesungsreihen pro Jahr. Das Beispiel der Europäischen Universität zeigt, dass man Menschen nur die Gelegenheit geben muss, sich ihrer geliebten Arbeit zu widmen, und damit die besten Köpfe gewinnt, die dann eifrig ihrer Tätigkeit nachgehen und die Lehre für die Studenten interessant gestalten.

Der Angriff auf die Europäische Universität ist ein Signal dafür, dass der Staat in der Universität lediglich eine bürokratische Organisation sieht, in den Lehrkräften Beamte, welche gebraucht werden, um die Studienzeit auszufüllen, und in den Studenten eine passive Masse, der es gleichgültig ist, was ihr unterrichtet wird.


An der Europäischen Universität versteht man, wie wichtig es ist, vernünftige Bedingungen für Studium und Lehre zu schaffen.

Es ist kein Geheimnis, dass viele russische Universitäten eher einem Sozialamt ähneln, sowohl in der Ausstattung als auch in der Atmos­phäre. Ihre Absolventen erleben oft einen Schock, wenn sie in ein normales universitäres Umfeld geraten. An der Europäischen Universität versteht man sehr gut, dass eine qualitativ hochwertige Lehre ein ebensolches Umfeld voraussetzt. Deshalb werden dort verschiedene Lehrmethoden angewendet. Ebenso können die Studenten in einer gut ausgestatteten Bibliothek arbeiten, die Zugang zu Datenbanken und aktuellen Zeitschriften bietet.

Daran, wie der Angriff auf die Europäische Universität ausgeht, wird sich zeigen, wie überlebensfähig die Strategie der Entwicklung der russischen Bildung und Wissenschaft ist, die mit dem Namen dieser Universität einhergeht.


Das Ende der Europäischen Universität hat einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Bildung und Wissenschaft in Russland.

Während ihrer kurzen Existenz gelang der Universität Herausragendes. Daher ist die Drohung staatlicher Organe, mit fadenscheinigen Begründungen ihre Tätigkeit zu unterbinden, ein unausweichliches Signal an alle, welche die Situation verfolgen.

Ein Angriff auf die Leitfigur ist ein Angriff auf alle, die sich an ihm orientieren. Deshalb hat die Untergrabung  der Tätigkeit der Europäischen Universität ohne Zweifel starke und langanhaltende Auswirkungen auf die russische Bildung und Wissenschaft.

 

Der Artikel im Original: https://meduza.io/feature/2017/09/29/pochemu-ataka-na-evropeyskiy-universitet-v-peterburge-katastrofa-dlya-rossiyskoy-nauki-i-obrazovaniya

 

Chronik der Entwicklung 

28.11.1994: Die Europäische Universität wird mit Fürsprache des damaligen St. Petersburger Bürgermeisters Anatolij Sob­tschak gegründet. Sie versteht sich als Forschungsuniversität im Humboldtschen Sinne (harmonische Verbindung von Forschung und Lehre) und ist international ausgerichtet. Die Abschlüsse werden im Ausland anerkannt.

1.4.2016:  Rosobrnadsor setzt die Akkreditierung der Studien­gänge aus.

Juni 2016: Vitalij Milonow, Abgeordneter des Stadtparlaments und Urheber eines Gesetzes gegen „Propaganda von Homosexualität“, reicht eine offizielle Beschwerde gegen die Universität ein. Angeblich hat es Klagen aus der Bevölkerung und von Studenten gegeben. Rosobrnadsor ist verpflichtet, eine Untersuchung einzuleiten.

14.7.2016: Bei einer ersten außerplanmäßigen Kontrolle deckt Rosobrnadsor nach eigenen Angaben 120 Missstände auf. Dazu gehören das Fehlen einer eigenen Sporthalle und von Schautafeln gegen Alkoholkonsum sowie das eigenmächtige Austauschen der Fenster.

14.10.2016: Rosobrnadsor verbietet die Neuimmatrikulation von Studenten. Die Missstände seien nicht fristgerecht beseitigt worden.

7.12.2016: Die Lehrzulassung der Universität wird ohne Angabe von Gründen ausgesetzt. Dagegen klagt sie zunächst erfolgreich.

1.7.2017: Der langjährige Rektor Oleg Charchordin tritt zurück. Er wolle den Weg frei machen für eine Kompromissfigur, sagt er zur Begründung.

28.9.2017: Die Erteilung der beantragten neuen Zulassung wird abgelehnt.

4.10.2017: Das Rektorat beschließt, zunächst als Forschungsinstitut weiterzuarbeiten. Alle Studenten haben die Universität verlassen.

Daniel Säwert

 

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