Liberales Establishment zunehmend unter Druck

Für Außenstehende ist jegliches „Establishment“ beklagenswert einförmig. Doch selbst in Russland offenbaren sich in ihm – dem „System“ – bei näherer Betrachtung Bruchlinien, die kaum weniger präg­nant sind als etwa die zwischen den deutschen Parteien CDU und SPD in ihrem heutigen Zustand.

Day 2 of the 10th WTO Ministerial Conference, Nairobi, 16 December 2015. Photos may be reproduced provided attribution is given to the WTO and the WTO is informed. Photos: © WTO. Courtesy of Admedia Communication.

Der ehemalige russische Wirtschaftsminister Uljukajew bei einer WTO-Konferenz im Dezember 2015 in Nairobi / Foto: World Trade Organization

Den kleinen, aber feinen Unterschied machen im Moskauer Politikbetrieb die sogenannten „Systemliberalen“ aus: Sie setzen sich für eine an den Gesetzen des freien Marktes orientierte Wirtschaftspolitik ein und bestehen mit mehr oder weniger Nachdruck auch auf einem Mindestmaß an politischen Freiheiten – schon allein um des Geschäftsklimas willen. Und sie sind keine verschwindend kleine Minderheit: Einige der größten Staatsunternehmen des Landes sowie die Zentralbank werden von ihnen geleitet, zudem ist fast das halbe Regierungskabinett mit ihnen bestückt, insbesondere der für die Wirtschaft zuständige Teil. Zu ihm gehörte auch Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew, bis er Mitte November wegen Verdachts auf Korruption festgenommen wurde.

Diese Sensation hat unter den russischen Liberalen für Entsetzen gesorgt wie zuletzt nur die Ermordung des Kremlkritikers Boris Nemzow. Vor allem den „Systemliberalen“ bis hinauf auf die Ebene der stellvertretenden Ministerpräsidenten soll ein Schreck in die Glieder gefahren sein: Kippt jetzt die Balance innerhalb des Establishments zu ihren Ungunsten? Wirft sie Präsident Putin nun endgültig den Falken aus dem Sicherheitsbereich sowie den Spitzen der staatlichen Öl- und Gaskonzerne zum Fraß vor?

Unmittelbar nach Uljukajews Festnahme zirkulierten Listen mit weiteren liberalen Staatsdienern, die jetzt wie Dominosteine fallen würden. Sogar die immer wieder beschworene Absetzung von Premier Medwedew schien jetzt möglich. Für Beruhigung sorgte dann Putin selbst, indem er beteuerte, dass der Fall eines Ministers keinen Schatten auf das übrige Kabinett werfe.

Was bleibt, ist die Vorfreude auf einen der spektakulärsten Prozesse der russischen Geschichte sowie zum Ende dieses Superwahljahrs die vage Erinnerung daran, wie politische Kräfte in Russland doch noch in Bewegung gesetzt werden können.

Bojan Krstulovic

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