Einige starren wie gebannt auf das Szenario, das sich dieser Tage im flämischen Saal der Eremitage abspielt. Andere gehen nach einem flüchtigen Blick ganz schnell weiter. „Mein Gott“, flüstert eine Babuschka leise. Ein Kind fragt: „Mama, was ist das?“ Die Antwort: ein weißer Schwan, der mit ausgebreiteten Flügeln auf einem kopflosen, schwarzen Skelett in Fötus-Stellung thront. Die Hände des aus Käfern gefertigten Knochenkörpers greifen dabei wie aus Notwehr nach dem schwebenden Federvieh. Die Ausstellung „Ritter der Verzweiflung. Krieger der Schönheit“ des flämischen Künstlers Jan Fabre mutet den Besuchern der Eremitage einiges zu. Fabre, Enkel des französischen Insektenkundlers Jean-Henri Fabre, war seit seiner Kindheit von Insekten umgeben. Die benutzt er nun für seine Kunstobjekte (wie die Käferbüste auf dem Foto rechts). An den Wänden sind Totenschädel aus echten Insekten installiert. Ausgestopfte Tiere in ihrem Mund werfen schwarze Schatten auf die karminrote Wand des Zarenpalastes mit Gemälden der alten Meister.
Bei den Besuchern stößt das überwiegend auf Ablehnung. „Es ist fragwürdig, tote Tiere neben Rubens auszustellen“, meint Julia Rjapolowa. „Das ist doch keine Kunst mehr“, schimpft Alexandra Kirejewa. Solche Stimmen sind typisch für das Echo vor Ort und in den sozialen Medien, in denen unter dem Hashtag #позорэрмитажу („Schande der Eremitage“) protestiert wird.
Лицемерие говорить #позорэрмитаж а потом есть мясо жестоко убитых животных. #эрмитаж #веган #говеган #GoVegan #Hermitage
— Алиса (@AlisaArturovna) November 14, 2016
Ein bekannter Blogger nennt die Ausstellung „Müll in den angesehensten Sälen St. Peterburgs und ganz Russlands“. Auch die Presse fand nicht viel Positives an Fabres tierischen Installationen in der Eremitage. Dabei eilt dem 57-jährigen Belgier der Ruf eines Genies voraus. Seine Kunst ist quer über den Kontinent verteilt: von Venedig über die Piazza della Signoria in Florenz bis hin zum Van-Gogh-Museum in Amsterdam. Unter dem Glaspyramidendach des Pariser Louvre schockte Fabre 2008 mit einem gigantischen, auf Grabsteinen kriechenden Wurm mit Menschenkopf.
Eremitage 20/21 und die Grenzen der Kunst
In der Eremitage hat Kurator Dmitrij Oserkow zwei Jahre lang an der Vorbereitung der Ausstellung gearbeitet, Ende Oktober wurde sie eröffnet. „Die Eremitage will moderne Kunst auf Weltniveau vermitteln“, sagt Oserkow. Als Leiter des Avantgarde-Projektes „20/21“ holte er innerhalb von neun Jahren Kunst von über 40 Künstlern aus aller Welt nach Russland. Die Mission dabei: das Fenster zu Europa, Amerika und der Welt ganz weit zu öffnen. Fabre habe ein spezielles Projekt für die Eremitage angeboten, das neue Kunst, alte Meister, Katharina die Große und die moderne Eremitage verbinde, was die Ausstellung so vielschichtig mache. Zum Begleitprogramm gehören neben Fachvorträgen auch Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche. Auf die zahlreichen Beschwerden der Besucher reagierte die Eremitage nun mit einer offiziellen Erklärung. Kontroverse Resonanz ist Oserkow im Rahmen von „20/21“ gewohnt. So prüfte das Stadtgericht von St. Petersburg vor vier Jahren die Ausstellung „Das Ende des Spaßes“ der britischen Brüder Jake und Dinos Chapman. Im Vorfeld waren über 130 Bürgerbeschwerden bei den Behörden eingegangen. Die Vorwürfe: Gotteslästerung und nationalistischer Extremismus. „Wir erwarten vom Besucher den Willen, sich mit neuer Kunst auseinanderzusetzen“, erklärt Oserkow. Für ihn entsteht so auch ein frischer Blick auf die alten Meister, die „schließlich zu ihrer Zeit selbst modern und kontrovers waren“, gibt er zu bedenken.
Maßstab für Russland und darüber hinaus
Die Eremitage verschiebt mit Ausstellungen dieser Art nicht nur die Grenzen dessen, was in Russland als Avantgarde gilt, sondern untermauert auch ihr Weltrenommee. Erst kürzlich kürte Tripadvisor sie zum besten Museum Europas, vor dem Pariser Musée d‘Orsay und dem Madrider Museo del Prado, sowie zur Nummer drei der Welt. Für das Ranking werden alljährlich Besucherkommentare auf der Reiseseite ausgewertet. Die Eremitage, bereits 2014 die Nummer eins in Europa, ist das einzige russische Museum unter den gelisteten Top 25.
Christopher Braemer