Eis mit Gorgonzola und Wodka

Wie zu Sowjetzeiten, echt italienisch oder mit Tee verfeinert: Wenn es um Eis geht, sind viele Russen Traditionalisten. Aber auch Alternativen kommen an.

Eis

Vanille, Schokolade, Erdbeere – oder lieber mal Eis mit Elchmilch, Trüffel und Rosenblättern? /Foto: Pixabay

Geschickt wickelt Wladimir sein „Eskimo“ aus dem Silberpapier. Die Finger sind dick und nicht mehr so gelenkig. Aber wie man mit diesem Eis umgeht, wissen sie aus jahrelanger Erfahrung. Eskimo hat Wladimir schon als Kind gern gegessen. Zum ersten Mal mit fünf Jahren, an einem Feiertag im Frühling, das weiß er noch. Dann mit den Söhnen. Jetzt sitzt er neben seiner Frau auf einer Bank im Kaufhaus GUM am Roten Platz. Beide im Rentenalter, beide mit Eskimo.

Nüchtern betrachtet ist es nichts anderes als Vanilleeis mit hohem Fettgehalt und Schokoladenglasur. Aber für Wladimir wie für viele Russen ist das „sowjetische“ Eis mehr: Es schmeckt nach Kindergeburtstag und Sonntagsausflug mit den Eltern, nach dem ersten Date oder nach Sommer auf dem Land.

Hersteller setzen auf Retro-Namen

Die Hersteller wissen diese Nostalgie zu nutzen: Sie geben ihren Sorten Retro-Namen wie Plombir und Eskimo und wickeln sie in dazu passendes Papier: „Nach Originalrezept aus dem Jahr 1948“ steht auf einer Verpackung und die Zutaten sind aufgelistet: Milch, Butter, gesüßte Kondensmilch, Kakao, Trockenmilch, Zucker, Wasser, Mehl. Mehr ist nicht drin, genau wie damals.

Und nostalgisch stimmt viele auch der Preis von Eskimo und Co. Im Supermarkt gibt es einfaches Milcheis in der Waffel schon ab etwa 30 Rubel, umgerechnet nicht einmal 50 Cent. Selbst im GUM kostet eine Portion nur 50 Rubel. Geschmacklich dagegen ist das, was heute als „sowjetisches“ Eis angeboten wird, eher unspektakulär. Durchaus cremig zwar, aber nicht besonders interessant. Wie zu Sowjetzeiten eben: eine erschwingliche Süßigkeit für jedermann.

Alles außer Fleisch

Doch das ist nicht alles, was Russland derzeit an Eis zu bieten hat. Am anderen Ende der Preis- und Geschmacksskala rangieren zum Beispiel die Kreationen von Viktor Enin. Tabasco und Wodka, Wein und Wiesengräser: Wenn es darum geht, neue Eissorten zu entwickeln, kennt Viktor Enins Fantasie keine Grenzen.

Er ist Gründer und Eigentümer des Eis- und Teehauses „Tschajnaja Wysota“. Fleisch hat es bisher noch nicht auf seine Zutatenliste geschafft. Doch sonst ist in den 145 Sorten, die er seit 2006 kreiert hat, fast alles drin. Und zwar in allen möglichen Varianten. Heidelbeere mit Blauschimmelkäse oder Erdbeere mit Basilikum und Rosenblättern – zwei der ersten Sorten – sind für seine Verhältnisse noch relativ normale Kombinationen.

Mit dem Segen eines chinesischen Mediziners

Das Markenzeichen von Enins Eis aber ist Tee. Alle seine Sorten, Milcheis wie Sorbets, sind auf Tee-Basis entwickelt. Das hat mittlerweile auch Nachahmer in Moskau gefunden. Aber als Enin vor elf Jahren damit anfing, schüttelten selbst seine Bekannten zunächst den Kopf. Einzig ein befreundeter chinesischer Arzt, ein Meister der traditionellen Medizin, fand die Idee gut.

Enin verkaufte damals bereits Tee und war auf der Suche nach dem passenden Dessert. Eis kam in Frage, es durfte aber nicht zu süß sein, um den Geschmack des Tees nicht zu stören. Und es sollte „interessant“ schmecken, wie Enin es formuliert.

„Es schmeckte nicht langweilig“

Denn „interessantes Eis“ hat es seiner Meinung nach in Russland Anfang der Nullerjahre nicht gegeben. Zu Sowjetzeiten schon, erklärt er. Das sowjetische Eis sei nicht nur populär gewesen, sondern auch von hoher Qualität. Und das, obwohl es industriell in großen Mengen hergestellt wurde. „Das war ein wichtiger Wirtschaftszweig, für den man viel getan hat. Es schmeckte nicht langweilig.“

Ein Anklang an Sowjetzeiten findet sich auch auf Enins Eiskarte: Die meisten seiner Milcheissorten bezeichnet er als Plombir. Gemeint ist damit aber nicht das russische, sondern das ursprüngliche, französische „Glace plombière“. An dieser Tradition orientiert er sich und hat sie abgestimmt auf die Beschaffenheit seiner eigenen Kreationen. Außerdem bietet er seit dem vergangenen Jahr auch italienisches „Gelato“, das heißt ohne Eigelb hergestelltes Eis an.

Lust auf neues Eis

Und was sagt die Kundschaft? Die skeptischen Freunde und Bekannten hätten ihre Meinung schnell geändert, als sie das Tee-Eis zum ersten Mal probierten, erzählt Enin. Mittlerweile verkauft er sein Eis nicht mehr nur im Teehaus, sondern auch an Ständen im Gorki-Park und auf dem Ausstellungsgelände WDNCh sowie bei verschiedenen Festivals. „Unsere Erfahrung zeigt, dass die Leute auch beim Eis mal etwas Neues ausprobieren wollen.“

Den Geschmackstest der MDZ haben Enins experimentelle Eiskreationen eindeutig bestanden. Zwar muss man dafür mit 160 bis 260 Rubel pro Kugel deutlich mehr zahlen als für den Klassiker. Dafür bekommt man aber auch Trüffel, Elchmilch oder den Saft sibirischer Tannenbäume in den Becher.

Hilfe aus der Toskana

Wem das zu wild ist, der kann sein Glück im Café „Plombir“ von Azalia Mesange versuchen. Sie verkauft seit drei Jahren echtes italienisches „Gelato“ in Moskau. Trotzdem nannte sie ihr Café in Kitai-Gorod „Plombir“: Weil Russen damit „das qualitativ hochwertigste Eis, sehr cremig und geschmackvoll“ verbinden, wie sie glaubt. Die Patenschaft für das Geschäft hat ein Eismacher aus der Toskana übernommen, der regelmäßig nach dem Rechten sieht.

Auch hier kommen neben Schoko, Vanille und Tiramisu abwechselnd ungewöhnliche Sorten wie Gorgonzola, Sanddorn oder Pilze in die Waffel. Wer das „Gelato“ testet, schmeckt gleich, dass hier ein Italiener seine Finger im Spiel hat. Nicht umsonst gilt das Eis im „Plombir“ (150, 250, 350 Rubel für 1, 2 oder 3 Kugeln) in Online-Bewertungsportalen als eines der besten der Stadt.

Corinna Anton

 


Mehr als 400 000 Tonnen Eis im Jahr

Zwar heißt es oft, Russen würden selbst bei Minusgraden Eis verspeisen – und sicher sieht man auch im Winter Menschen mit Waffel in der Hand. Trotzdem gilt wie anderswo: Je höher die Temperaturen desto besser der Umsatz. So seien in Moskau und Umgebung wegen des kalten Sommers die Erlöse deutlich zurückgegangen, sagte Swjatoslaw Radwanskij, Vorsitzender des Verbands der Eishersteller, der Nachrichtenagentur RIA Novosti. Ihm zufolge wurden 2016 in Russland 407 000 Tonnen Eis hergestellt, zehn Prozent mehr als im Jahr zuvor. Etwa 60 Prozent wurden im Sommer verkauft. Auch für dieses Jahr rechnet der Verband wieder mit Produktionszahlen über 400 000 Tonnen. Als es in Moskau kalt war, schwitzten die Menschen in anderen Regionen und glichen die Einbußen einfach schleckend wieder aus.

 

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