Von Gott und der Welt: Starke Frauen aus Dagestan

Dagestan gehört zu den muslimisch geprägten Republiken im russischen Nordkaukasus. Es erstreckt sich von den Kaukasusbergen bis zum Kaspischen Meer. Jahrhundertealte Stammestraditionen werden hier bis heute gelebt. MDZ-Autorin Femida Selimowa, selbst aus Dagestan, schildert die Biografien dreier starker Frauen aus dieser Region, die für ganz verschiedene Lebensperspektiven stehen.

Atemberaubendes Panorama: das Dorf Gunib in den Bergen Dagestans. © Sajnab Alimirsajewa

Mijasat Muslimowa, 58, ist eine Stimme, die gehört wird in Dagestan. Sie ist alles andere als bequem. 

Man kennt Mijasat Muslimowa weit über die Grenzen von Dagestan hinaus. Die Publizistin, Schriftstellerin, Wissenschaftlerin und gesellschaftspolitische Aktivistin steht häufig im Rampenlicht, daher weiß man: Konformismus und Kriecherei sind ihre Sache nicht. Als „Self-Made-Woman“ widerlegt sie zugleich die im Kaukasus weit verbreitete These, eine Frau könne im Leben nichts selbst erreichen.

Aufgewachsen in den Bergen Lakiens, wurde Mijasat nichts geschenkt. Von sieben Kindern in der Familie überlebten nur drei. An ihren Vater kann sie sich kaum erinnern: Die Eltern ließen sich scheiden, dann kam er ins Gefängnis. Als die Mutter mit den Kindern in die dagestanische Hauptstadt Machatschkala umzog, waren ihre neuen Nachbarn zufällig die Angehörigen eines Mannes, den ihr Vater versehentlich getötet hatte. So lernte sie mit acht Jahren, was „Blutrache“ bedeutet. „Schwarz gekleidete Frauen stürzten sich auf mich, weinten, drohten.“ Doch mit der Zeit versöhnte man sich und fand, man habe eine gemeinsame Vergangenheit, die man auch gemeinsam beweinen könne.

In ihrer Kindheit war Mijasat oft sich selbst überlassen. In den Bergen war ihre Mutter die beste Melkerin von allen gewesen. In der Stadt musste sie sich nun als Putzfrau verdingen und lange Stunden arbeiten, um die Familie zu ernähren. Mijasat suchte Zuflucht in Büchern, während ihre Mutter meinte, davon könne man den Verstand verlieren.

Nach dem Schulabschluss fing Mijasat Muslimowa als Lehrerin an, schrieb später eine Doktorarbeit, kehrte an ihre Hochschule zurück. Das waren die berüchtigten 90er Jahre und große Teile des Nordkaukasus standen in Flammen, während es in Dagestan halbwegs ruhig blieb. Doch der Wahhabismus gewann zunehmend an Einfluss. Die Wahhabiten erzählten den Dagestanern, dass sie eigentlich Araber seien.

Mijasat Muslimowa mit Schülern einer Begabtenschule. © Privat

2006 trat Mijasat in den Staatsdienst ein. Der Parlamentsvorsitzende und spätere Präsident von Dagestan, Muchu Alijew, bot ihr an, ein Informations- und Analyse-Amt aufzubauen und zu leiten. Zu jener Zeit verübten Radikale immer wieder Terroranschläge, was die gesamte Region in Atem hielt. Als Alijew abtreten musste, sollte auch, so ist es üblich in diesen Breitengraden, seine gesamte „Mannschaft“ gehen. Doch Muslimowa, inzwischen Vizeministerin für Presse und Druckwesen, ließ sich nicht so einfach entsorgen, musste Verleumdungen, Hetze, Intrigen über sich ergehen lassen. Am Ende wurde sie entlassen, als sie die Idee von Alijews Nachfolger Ramsan Abdulatipow, Dagestan eine neue Hymne zu verpassen, ablehnte.

Heute ist Mijasat an der Dagestanischen Staatsuniversität Professorin für Methodik des Russisch- und Literaturunterrichts und lehrt darüber hinaus an einem Gymnasium für begabte Kinder, leitet den von ihr selbst gegründeten Schriftstellerverband, engagiert sich in Politik und Gesellschaft.

Eines ihrer letzten Bücher trägt den Titel „Dialoge mit Dante“, das der russische Menschenrechtsbeauftragte Michail Fedotow in höchsten Tönen lobte. Als er es Regierungschef Dmitrij Medwedew überreichte, sagte Fedotow: „Dieses Buch gehört in jedes Haus.“ In „Dialoge mit Dante“ reflektiert Mijasat die neueste Geschichte des Kaukasus im Dialog mit dem Autor der „Göttlichen Komödie“. Sie schreibt auf Russisch, das sie als ihre Muttersprache betrachtet.

Besondere Rücksichten auf sich als Frau fordert Mijasat nicht ein. „Was sollen mir Krücken?“, fragt sie. „Ich bin stark genug, vom Leben gestählt, ich lasse nicht zu, mich in eine unterwürfige Frau aus dem Osten zu verwandeln, die ihren geliebten Mann anhimmelt.“

Sie sei gleichzeitig „Kaukasierin und Europäerin“, sagt sie. „Ich versuche, dass Beste aus diesen beiden Kulturen in mir zu vereinen.“

 

Fatima Dadajewa bei der Vorstellung ihres Romans. © Privat

Fatima Dadajewa, 67, ist selbst als Rentnerin ein vielbeschäftigter Mensch. Bereits im reifen Alter hat sie auch noch mit dem Schreiben angefangen.

Gorjanka, eine echte Frau aus den Bergen! In Dagestan gibt es kaum ein größeres Kompliment. Die Bergbewohnerinnen wurden in Legenden verewigt, über sie hat man Gedichte und Lieder geschrieben, Künstler haben sie gemalt, wie sie auf dem Weg zur Quelle sind oder sich über eine Wiege beugen. Fatima Dadajewa ist so eine Gorjanka.

Als Kind konnte es die kleine Fatima kaum erwarten, in die Schule zu kommen, um Lesen und Schrei­ben zu lernen. Doch der Großvater brachte ihr das dann sogar viel früher bei und schrieb sie in der Kinderbücherei ein. Buchstäblich jeden Tag lieh sie sich ein neues Buch aus. Wenn man ihr in der Bücherei nicht glaubte, dass sie das vorherige Buch schon ausgelesen haben könne, erzählte sie den Inhalt nach.

Als es Zeit war, sich einen Beruf zu suchen, da wollte Fatima anders als die meisten Jugendlichen nicht Ärztin oder Lehrerin werden, sondern Bibliothekarin. Das Philologie-Studium an der Staatlichen Universität Dagestans konnte sie wegen einer Erkrankung aber nicht abschließen, sattelte später auf Finanzen und Wirtschaft um.

Aber das Wichtigste ist ihr ohnehin die Familie. Auch im Kaukasus gilt, was die Engländer sagen: My home is my castle. Aus ihren vielen Rollen hält Fatima die der Mutter und der guten Seele des Hauses für die Hauptrolle. Die Bräuche und Traditionen ihrer Vorfahren sind ihr heilig. Mit Ehemann Ismail ist sie fast ihr gesamtes Leben zusammen. Die beiden haben nicht nur in ein und derselben Klasse gelernt, sondern sich sogar ein und dieselbe Schulbank geteilt. In diesem Jahr wird Goldene Hochzeit gefeiert.

„Ich glaube, wir sind eine wahrhaft glückliche Familie, mit unseren eigenen Werten, die wir den Kindern und Enkeln weitervermitteln konnten“, sagt Fatima. Frauen vergleicht sie mit Lotsen, die den Kurs nicht nur dann halten müssen, wenn kein Wölkchen am Himmel ist und Windstille herrscht, sondern auch und gerade in stürmischen Zeiten.

Fatima hat ihr gesamtes Leben in ihrer Heimatstadt Bujnaksk verbracht. Heute, als Rentnerin, organisiert sie Kulturveranstaltungen in einem Sozialzentrum für Familien und Kinder. Nicht, weil sie über eine bescheidene Rente verfügt, sondern weil sie das Gefühl hat, gebraucht zu werden, helfen, sich kümmern, mitfühlen, Anteil nehmen will. Aber das ist ja längst nicht alles. Gesellschaftliche Arbeit hat sie schon früher geleistet, noch zu Sowjetzeiten, war Parteiorganisatorin in einer Schuhfabrik, dann Gewerkschaftsfunktionärin. Heute ist Fatima Dadajewa Vorsitzende der Bewegung „Mütter Russlands“ in ihrer Stadt, Mitglied der städtischen Bürgerkammer und der Parteiorganisation von „Einiges Russland“.

Ihr Leben sei voller überraschender Wendungen, erzählt sie.  Dazu gehört das Schreiben: „Die Muse hat mich geküsst, da war ich schon über 50. Die Zeilen sind im Kopf wie von selbst entstanden und wie Vögel durch mein Gedächtnis geflattert. Wenn ich sie nicht rechtzeitig festgehalten habe, dann waren sie mir böse und haben sich in Luft aufgelöst. Sie kamen dann auch nicht wieder.“

Anfangs bestand ihr Schaffen aus kleinen Erzählungen und Essays, die in der Lokalzeitung erschienen. Die Leser haben sie ermutigt, weiterzumachen, was sie auch tat. Inzwischen wurden bereits drei Bücher von ihr veröffentlicht, und Fatima wird zu Lesungen in ganz Dagestan eingeladen. Ohne das Schreiben kann sie sich ihr Leben gar nicht mehr vorstellen. Seit 2016 ist sie Mitglied im Russische Schriftstellerverband.

Im Unterschied zu vielen anderen aus ihrer Generation, hat Fatima Dadajewa keine Berührungsängste, was moderne Medien betrifft, ist eine aktive Nutzerin von sozialen Netzwerken. Auf Facebook postet sie jeden Tag ein Gedicht aus der Reihe „Laut gedacht“. Ihre Themen sind Dinge, die im Alltag oft untergehen: die Schönheit der Natur, der Wert des Lebens, Glaube, Hoffnung und Liebe. Die meisten ihrer Gedichte sind an Gott gerichtet.

Fatima ist eine tiefgläubige Frau. Sie findet, dass die Menschen im heutigen Dagestan viel zu oft materiellen Werten hinterherlaufen und die geistigen vergessen. Es sei „erstaunlich“, was man beobachten könne, wenn man die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleiche: „Früher galt unser Staat als atheistisch, Religion war offiziell verboten und die Gesellschaft vom Glauben isoliert. Und doch waren die Leute anständiger, ehrlicher und glaubten in der Tiefe ihres Herzens an Gott, nicht so wie jetzt.“

Heute, da Religionsfreiheit herrsche, ließen sich viele einen Bart wachsen oder aber seien von Kopf bis Fuß verhüllt. „Sie gehen in die Moschee, sagen die richtigen Worte, doch denken ganz anders. Das nennt man Heuchelei“, sagt Fatima Dadajewa. Der Glaube an Gott dürfe kein demonstrativer, er müsse ein echter sein.

Die Spiritualität gehöre wiederhergestellt, das sei keine leichte Aufgabe, findet Fatima. Sittsamkeit und die wahren Werte müssten schon den Kindern anerzogen werden. Ihr eigenes Rezept für ein erfülltes Leben fasst sie wie folgt zusammen: Man muss mit wenig zufrieden sein können, dabei aber von Großem zu träumen wagen.

 

Große Freiheit: Samira Atluchanowa in San Diego, Kalifornien. © Privat

Samira Atluchanowa, 26, aus Machatschkala, studiert in der USA Kultur und Literatur und hat sich damit einen Traum erfüllt.

Samira war schon immer ein wenig anders. Als Mädchen jagte sie mit ihren Brüdern und anderen Jungs im Hof dem Fußball hinterher, was für Dagestan bis heute ein eher seltenes Bild ist. In ihrer Kindheit wurde auch ein Traum geboren, der sie seitdem nicht mehr losgelassen hat. Einmal fiel ihr nämlich eine Ausgabe des Journals „Geo“ in die Hand, in der es einen Artikel über Kanada gab, den sie förmlich verschlang. Dort, nach Nordamerika, wollte sie irgendwann hin. Und bisher war es immer so: Was sie sich in den Kopf gesetzt hat, das hat sie auch konsequent in die Tat umgesetzt.

Auf wie viele Widerstände sie dabei stoßen würde, davon bekam Samir schon früh eine Ahnung, wenn man ihr die Flausen auszutreiben versuchte. Sie sollte doch ihrer Mutter im Haushalt helfen, den Boden fegen, die Blumen gießen und sich so von Kindesbeinen an auf die Rolle als spätere Hausfrau vorbereiten. Umso älter sie wurde, desto mehr war sie mit Tabus konfrontiert, die alle irgendwie gleich klangen und mit den Worten begannen: „Für Mädchen gehört sich das nicht.“

Anfangs hat sie sich darüber geärgert, aber mit der Zeit gelernt, es auszublenden und sich nicht fremden Wünsche und Erwartungen unterzuordnen, sondern das zu tun, was sie sich vorgenommen hat. Nach der Schule nahm sie ein Studium an der Fakultät für Fremdsprachen der Staatlichen Universität Dagestans auf. Sie wollte ja nach Kanada, also musste sie mindestens Englisch, besser auch Französisch fließend beherrschen. Und sie strengte sich an, entdeckte im Internet eine amüsante Methode, sich Vokabeln einzuprägen, indem sie die Wörter aus dem Lehrbuch in ein Schreibheft übertrug – und zwar als Rechtshänderin mit der linken Hand. Angeblich soll dadurch die für die linguistischen Fähigkeiten des Menschen verantwortliche linke Hälfte des Gehirns aktiviert werden. Sei es, wie es sei, bei Samira hat die Technik tatsächlich wahre Wunder bewirkt. Heute muss sie sich im Englischen kaum vor Muttersprachlern verstecken und sagt: „Als ich mein erstes englisches Buch im Original gelesen habe, das war ein unbeschreiblicher Kick. Ich hatte das Gefühl, Berge versetzen zu können.“

Im dritten Studienjahr verbrachte Samira vier Monate in den USA. Diese Zeit weit weg von der Familie und all denen, die ihr ständig Ratschläge erteilten, bestärkte sie darin, vor allem ihrer inneren Stimme zu vertrauen. Nach der Uni fand sie Arbeit an einer Fremdsprachenschule in Machatschkala. Englisch zu unterrichten, machte ihr viel Spaß, nur der Arbeitsweg wurde zum Spießrutenlaufen. Immer wieder hatten zufällige Passanten etwas an Samiras Garderobe auszusetzen und meinten, das ihr auch mitteilen zu müssen. Dabei war daran gar nichts Außergewöhnliches: Jeans,  Turnschuhe, Rucksack – das, was viele Jugendliche tragen, einfach weil es bequem ist. Doch immer wieder traten wildfremde Menschen an sie heran, um sich Luft zu machen: Wie siehst du denn aus? Was hast du denn an? Wo haben deine Eltern nur ihre Augen? Manche schienen auch einfach nur neugierig zu sein: „Du kommst wohl aus der Turnhalle?“, hörte Samira hin und wieder. Sie lächelte nur und ging ihrer Wege. Das war ihr stiller Protest dagegen, dass Leute, die sie überhaupt nicht kannten, sich in ihr Privatleben einmischen und ihr Vorträge halten wollen, was richtig und was falsch ist.

Auch in der Sprachenschule wurde es ihr bald zu eng. Sie war hungrig nach neuem Wissen, nach neuen Erfahrungen. Nach Amerika. Samira bewarb sich beim renommierten Fulbright-Programm um ein Stipendium für ein Masterstudium in den USA – und wurde genommen. Ihren Eltern hatte sie von der Bewerbung lieber nichts erzählt, nur die Brüder waren eingeweiht und unterstützten sie. Nun musste sie sich auch den Eltern offenbaren, was ihr nicht leicht fiel. Lange sortierte sie die Worte im Kopf und wusste dann doch nicht, womit sie anfangen sollte. Also legte sie einfach die Unterlagen vor ihnen auf den Tisch. Wie erwartet waren die Eltern nicht begeistert, hielten die Tochter aber auch nicht zurück.

Und so studiert Samira Atluchanowa nun schon seit geraumer Zeit an der Universität von Nebraska-Lincoln. Das Studium an der Fakultät für Kultur und Literatur soll sie zur Literaturkritikerin machen und gefällt ihr gut, wie auch das Leben in den Vereinigten Staaten. „Letztes Semester haben wir uns mit den  Arbeiten von Hegel und Nietzsche zur Kritischen Theorie beschäftigt“, da habe sie nicht gewusst, wo ihr der Kopf steht. Aber sie sei ja eine Kämpferin, getreu ihrem Lebensmotto: Du kannst, wenn du musst.

In den USA erlebt sie jene Form von Selbstverwirklichung, die ihr zu Hause so fehlt und die in der konservativen dagestanischen Gesellschaft von der Mehrheit nicht akzeptiert und unterdrückt wird. Trotzdem hat sie mitunter Heimweh nach Dagestan. Im Sommer will sie zur Hochzeit ihres Bruders in die Heimat reisen und auch ihre neuen amerikanischen Freunde mitnehmen. Nach dem Masterabschluss möchte sie in den USA bleiben und strebt eine wissenschaftliche Laufbahn an. Neues Ziel am Horizont ist ein Doktortitel. Auf die Frage, was wohl die Familie davon halten wird, lächelt Samira und antwortet mit den Worten von  Scarlett O‘Hara aus „Vom Winde verweht“ von Margaret Mitchell. Die Romanfigur pflegt gern zu sagen: „Darüber mache ich mir dann morgen Gedanken.“

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