Die verkannte Vielfalt der russischen Medienwelt

Russischen Medien wird in Deutschland nicht viel zugetraut. Journalisten haben es in der Tat nicht einfach. Doch Druck im Kessel bedeutet nicht gleich, dass das Feuer unter ihm erlischt. Allen Unkenrufen zum Trotz gibt es hier Journalismus von Weltformat.

Der Autor dieser Zeilen kommt mit den deutschen öffentlich-rechtlichen Medien meist nur beim Blick auf seine Sparkassen-Kontoauszüge in Berührung. Rein zufällig landete er Mitte September auf den Seiten der Tagesschau: „Putin“ schaffe in Russland den kritischen Journalismus ab, stand in der Überschrift, die später geändert zu worden scheint. Und dann dies: „Meinungen abseits der ,offiziellen Wahrheit’ gibt es kaum noch.“ Über Ersteres sollte man sich in der Tat immer wieder beschweren – es ist einem Staat wie Russland unwürdig. Letzteres ist jedoch mindestens so ärgerlich, wie der Gedanke an die 17,50 Euro, die Monat für Monat vom Konto gesaugt werden.

In der Tat wird dem russischen Journalismus in Deutschland wenig zugetraut, wohl auch dank Beiträgen wie dem eingangs erwähnten. Wenn „Putin“ schon gegen die russischen Medien die Peitsche schwingt, dann werden sie sicher kuschen, schweigen oder ihm nach dem Mund reden, so der unausgesprochene Fehlschluss. Doch Druck im Kessel bedeutet nicht gleich, dass das Feuer unter ihm erlischt. Trotz der bekannten Probleme und Tendenzen ist die hiesige Medienlandschaft noch immer vergleichsweise vielfältig und lebendig.

2823121 12.04.2016 Заместитель председателя комитета Государственной Думы РФ по промышленности Николай Сапожников на пленарном заседании Государственной Думы РФ. Владимир Федоренко/РИА Новости

In Russland muss man nicht nur die „Prawda“ lesen / RIA Nowosti.

Für gewöhnlich werden zwei russische Medien als Ausnahmen genannt, die als Feigenblätter der russischen Unfreiheit eher die Regel bestätigen als widerlegen: Die Zeitung „Nowaja gaseta“ sowie der Radiosender „Echo Moskaus“. Beide Institutionen werden dabei meist nur ins Spiel gebracht, wenn sie in Konflikt mit der Obrigkeit gelangen und dann angeblich vor der Schließung stehen. Was dabei zu kurz kommt, ist die Anerkennung, dass Russland mit ihnen über eine der weltweit besten dezidierten Oppositionszeitungen verfügt und zweifellos über einen der besten Talk-Sender überhaupt.

Vor allem „Echo Moskaus“ ist unter seinem Chefredakteur Alexej Wenediktow ein Paradebeispiel, wie Medien arbeiten sollten: Stets am Puls des Geschehens, im Grundton rebellisch, doch auch offen für Kreml-nahe Einschätzungen. Die Bandbreite der Meinungen der ständigen Experten ist für ein deutsches Publikum unvorstellbar: Zum Beispiel müsste die liberale Kremlkritikerin Julija Latynina, ein Aushängeschild sowohl des Senders als auch der „Nowaja gaseta“, wegen ihrer libertären, elitären und sozialdarwinistischen Positionen auch in Deutschland mutig sein. 

Dass die russische Medienlandschaft reicher ist als meist vermutet, liegt aber nicht nur an diesen Vorzeigemedien – zumal die „Nowaja gaseta“ als offen oppositionelle, also „engagierte“ Zeitung ohnehin nicht für jedermanns Geschmack ist. Da ist zum Beispiel die Tageszeitung „Wedomosti“, die in jeglicher Hinsicht vorbildlich arbeitet: Ihre Berichte sind zuverlässig, die Kommentare oft tiefgründig und in der Regel nicht vorhersagbar. Vor allem trennt die Zeitung beides konsequent voneinander – eine Tugend, die auch andere russische Qualitätsmedien wie „RBK“, „Kommersant“ oder nur im Internet Gazeta.ru und Lenta.ru auszeichnet. Daher kann man sich ihn ihnen über das Weltgeschehen informieren, ohne Wut über die Abo-Gebühren zu empfingen – zumal sie freiwillig sind und weit unter 17,50 Euro im Monat liegen.

Eine Klasse für sich unter den russischen Internetmedien sind Portale wie Slon.ru. Anders als die Zeitungen und Nachrichtenportale, spezialisieren sie sich auf ausführliche Erklärungen, Analysen und Prognosen – längere Texte, die von der subjektiven Einschätzung von Oleg Kaschin, Grogorij Golosow und einigen Dutzend weiteren Autoren und Experten leben. Was bei „Echo Moskaus“ über die Bandbreite der Meinungen gesagt wurde, gilt hier für die Qualität und Schärfe der Texte: Man muss es im Original erleben, um eine Vorstellung zu erhalten, was Online-Publizistik heute leisten kann.

Ein weiteres vergleichbares Angebot ist das vor etwa einem Jahr stark ausgebaute Portal der Carnegie-Stiftung in Russland Carnegie, dessen beste Autoren wie Alexander Baunow oder Maxim Samorukow früher bei Slon.ru arbeiteten. Sie und ihre Kollegen schreiben nicht, um dieselben Ansichten zum zehnten Mal in die Köpfe ihrer Leser zu hämmern: Die Ergebnisse ihrer Analysen sind für den Leser sogar stimulierend, eben weil sie offensichtlich erst am Ende und nicht schon zu Beginn des Denkprozesses feststanden.

Aber was von alledem ist „kritischer Journalismus“, der für Russland so gerne totgesagt wird? Wer behauptet, dass Zeitungen wie die „Wedomosti“ keinen kritischen Journalismus betreiben, versteht darunter vermutlich tägliche Titelseiten mit Putin im Bild und „Dieb“, „Diktator“ oder Schlimmeres in der Überschrift – und verwechselt dabei Journalismus mit Aktivismus. Wenn Kritik aber das schonungslose Benennen von Problemen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet, können die meisten der oben genannten und noch viele andere Medien – etwa die regionalen Portale Znak.com (Jekaterinburg) oder der „Kaukasische Knoten“ – ihren deutschen Kollegen mit geschwellter Brust in die Augen schauen.

Bojan Krstulovic

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