Die russische Versuchung

Inwiefern Moskau verzweifelten EU-Politikern Tipps in Sachen Bürgerwillen geben könnte.

Eigentlich müssten EU-Politiker ihre russischen Kollegen beneiden. Während sie selbst, einer nach dem anderen, von ihren Bürgern zurechtgewiesen werden – gestern auf der Insel, morgen in der Alpenrepublik und übermorgen auch in wichtigeren Ländern – sonnt sich das russische Establishment im 80-Prozent-Zustimmungs-Himmel für seinen Präsidenten. Und auch bei der kommenden Parlamentswahl sind Ausrutscher nicht zu befürchten (siehe hier). Wie gelingt das den Russen nur, die doch gegen die schwerste Wirtschafskrise seit Jahrzehnten rebellieren sollten? Und sie wissen ja auch, wie man Referenden durchführt, ohne sich nachher monatelang über das Ergebnis zu mokieren.
Jahrelang mussten sich die Russen anhören, wie man zu freien Bürgern kommt. Empfänglicher waren sie für kapitalistische Tricks, die einen Teil der Bürger reich werden und den Rest auch ein wenig davon profitieren ließen. Im „Kampf gegen den Terror“ halten die Russen große Stücke auf sich – es will nur niemand auf sie hören. Wegen irgendwelchen Bombenanschlägen hat ohnehin noch kein Politiker seinen Job verloren. Doch das störrische Wahlvolk lässt sich nicht einfach aussitzen: Solange die Migrationswelle in ihren Ländern für Unmut sorgt, werden sich die überzeugten Europäer von einer Wahl zur nächsten zittern müssen. Hier könnten Ratschläge aus dem Kreml also Gold wert sein. Nicht nur, weil man an seinem Posten klebt. Man kann auch sagen: Wir machen es für Europa!
Wer Probleme nicht löst, muss mit ihnen leben. Nirgends beherrscht man diese Überlebenskunst zurzeit besser als in Moskau. Und so ist zu befürchten, dass eher das hiesige Bürgerwillen-Management nach Westen findet, als dass europäische Freiheiten im Osten einkehren. So lange es sie drüben noch gibt.

Bojan Krstulovic

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