Den Betrachter zum Nachdenken zwingen

Der russische Karikaturist Andrej Ryschow über die Rolle seiner Zunft und kosmische Ironie

Andrej Ryschow etablierte sich in den 70er Jahren als Zeitungskarikaturist, wechselte dann jedoch für zwei Jahrzehnte in den Militärdienst. Heute leitet der studierte Bauingenieur die Gilde der Karikaturisten der Mediengewerkschaft Russlands und betreut ein internationales Karikaturen-Projekt, das Zeichnungen zum Thema Kosmos sammelt. Wir stellen ihn und einige Bilder dieses Projekts vor.

Михаил Златковский Россия 1

Michail Slatkowskij

Herr Ryschow, man könnte meinen, dass Sie sich mir Ihrem Projekt „Gagarins Lächeln“ über die Raumfahrt lustig machen …

Ja, so missverstehen das viele, weil sie die ironische Grafik mit einer Karikatur verwechseln. Im Großen und Ganzen kommen unsere Ausstellungen gut an, es gibt aber auch kritische Reaktionen. Zum Beispiel beschwerte sich vor kurzem ein Beamter über eine Zeichnung, auf der Amerikaner in Richtung Mond flogen, wobei ihnen die Russen zuvorgekommen waren und dort schon ein Picknick veranstaltet hatten. „Meinen Sie, dass alle unsere Kosmonauten Alkoholiker sind?“, so der Vorwurf. Leider haben nicht alle einen Sinn für Humor. Auch das Bild, auf dem ein Kosmonaut zurück auf der Erde landete und  Sterne erbricht, wurde heftig kritisiert. Den Kosmonauten dagegen gefällt die Zeichnung sehr. Sie sagen: „Das stimmt, wir sitzen dort wie Sardinen in der Büchse, wie im Gefängnis, jedoch ohne Freigang und frische Luft.“

Andrej Ryschow / bk

Worin unterscheidet sich die ironische Grafik von einer Karikatur?

Die Karikatur handelt von einer bestimmten Person oder einem konkreten Ereignis, das sie dann lächerlich macht. Eine ironische Grafik hingegen beschäftigt sich mit einem Phänomen, das solchen einzelnen Ereignissen zugrunde liegt. Sie spricht mit ihrem Betrachter, und der Dialog kann einen philosophischen, humoristischen oder sogar lyrischen Charakter haben. Das ist praktisch eine eigene Kunstgattung, die sich von der Karikatur abgelöst hat. Und sie ist international: In der Regel enthalten die Zeichnungen keinen oder nur sehr wenig Text, der leicht zu übersetzen ist.

Андрей Рыжов Россия 1

Andrej Ryschow

Nehmen Sie die Inspira­tion zu Ihren Themen von den Kosmonauten?

Nein, aber wir versetzen uns in sie hinein und versuchen, ihre Arbeit zu verstehen. Daher hören wir oft, dass wir ins Schwarze getroffen haben.

Mit welchen Problemen hat Ihr Projekt zu kämpfen?

Leider verschwinden ab und zu Bilder von unseren Ausstellungen. Das geschieht leider recht häufig, so zum Beispiel auf dem Weltraumsymposium der Lomonossow-Universität und auch in der Weltraumstadt Koroljow.

Виктор Скрылёв Россия 1

Wiktor Skryljow

Probleme gibt es außerdem mit den Autorenrechten. Die Zeichnungen wiederholen sich, und es ist schwer zu klären, wer der Urheber der Ideen ist und wer nur kopiert. Vor unseren Gerichten ein Plagiat zu beweisen, ist unmöglich, weil das Gesetz nicht das Sujet schützt, das einem eingefallen ist, sondern das Kunstwerk als materielles Objekt. Manchmal liegt eine Idee einfach in der Luft und mehrere Karikaturisten greifen sie gleichzeitig auf. Zum Beispiel wurde das Motiv eines Kosmonauten, der in der Pose eines Embryos dargestellt ist, bei unserem Wettbewerb zwölf Mal eingesandt. Diese Idee ist ja naheliegend, weil das Seil, das den Kosmonauten mit dem Raumschiff verbindet, an eine Nabelschnur erinnert. Wir konnten nicht herausfinden, wer das zuerst gemalt hat, und wählten dann das aus, was am besten gezeichnet war. Solche Motive, die in der Luft liegen, nennen wir Karikaturen erster Stufe. Sie werden zwar nicht geringgeschätzt, aber doch etwas belächelt.

Natalija Sutschylkina

Natalija Sutschylkina

Wie steht der russische Staat zu Karikaturen?

Die Staatsmacht hat keine Angst vor Karikaturen. Putin mag es zwar nicht, wenn er selbst ihr Gegenstand wird, doch er versteht, dass die Karikatur ein Verbündeter sein kann: Sie hilft, einen Mangel aufzudecken und über ihn eine Diskussion zu führen. 2001 unterstützte Putin die Idee, ein Museum der Karikaturen zu gründen. Freilich ist das bis heute nicht geschehen. Beamte niederen Ranges stellen sich quer, weil sie ganz richtig sehen, dass sie selbst Ziel von Humor und Satire werden können. Doch wir werden auch weiterhin dafür Klinken putzen gehen. Im vergangenen Jahr haben wir ganz aus eigener Kraft das 1. Moskauer Festival der ironischen Grafik und der Karikatur auf die Beine gestellt.

Iwan Antschukow

Iwan Antschukow

Wie wird man Karikaturist? Gibt es in Russland eine Schule, die dafür ausbildet?

Die allermeisten Karikaturisten sind keine ausgebildeten Künstler, sondern zum Beispiel Physiker, Architekten und Ingenieure. In Russland gibt es heute keine Schulen oder Institute, die speziell Karikaturisten ausbilden. Und in den klassischen Kunstschulen wird das Denken nicht gelehrt. Man lehrt die Studenten, die Welt wahrzunehmen und ihre Empfindungen an den Betrachter weiterzugeben. Doch der Karikaturist hat eine andere Aufgabe: Er muss den Betrachter zum Nachdenken zwingen. Dafür ist eine Ausbildung als Ingenieur oder Architekt zuweilen von Vorteil.
Um eine Dampflok zu zeichnen, braucht der gewöhnliche Maler ein Foto einer Dampflok oder noch besser eine echte vor seinen Augen. Ein Ingenieur dagegen versteht das Prinzip, nach dem die Maschine arbeitet. Noch bevor er sie sieht, entwirft er in Gedanken Zylinder und Kolben, weil er versteht, was die Lok in Bewegung setzt. Karikaturisten brauchen eine allumfassende Bildung, da sie sowohl zu ökonomischen wie auch politischen Themen arbeiten. Und sie müssen belesen sein, um mit Charakteren aus der Literatur arbeiten zu können. Alle meine Kollegen lesen viel.
Karikaturisten sind heute in verschiedenen Berufen zu Hause: Journalisten, Designer, Künstler. Es gibt auch keine Gewerkschaft der Karikaturisten, nur eine Gilde der Karikaturisten der russischen Mediengewerkschaft. Um eine Gewerkschaft zu gründen, braucht man 900 Mitglieder. Doch in Russland gibt es nur etwa hundert Karikaturisten. Auch weltweit kennen wir einander, wenn nicht persönlich, dann anhand der Arbeiten.

Alexander Sergejew

Alexander Sergejew

Gibt es heute eine Renaissance der Karikatur?

In der heutigen Welt findet eine Verdummung der Gesellschaft statt. Wenn sogar Präsidenten den Iran mit dem Irak oder die Slowakei mit Slowenien verwechseln, ist offensichtlich, dass die schwindende Intelligenz ein globales Problem ist. Die Karikatur war immer etwas für denkende Leute. Sie war besonders beliebt in unseren Wissenschaftsstädten, wo die intellektuelle Elite wohnte. Heute ist es für das Genre natürlich schwer, zu einem Publikum durchzudringen, das sich an einen oberflächlichen Humor unter der Gürtellinie gewöhnt hat. Ich habe mir angehört, womit der deutsche Satiriker den türkischen Präsidenten Erdogan beleidigte. Das ist bösartig, dumm und überhaupt nicht komisch. Ein weiterer Grund dafür, dass man nicht von einer Renaissance der Karikatur sprechen kann, ist, dass unsere Künstler so gut wie kein Geld für ihre Arbeit bekommen. Zeitungen und Magazine sind selbst nicht rentabel und können nichts zahlen. Dafür haben Karikaturen inzwischen ihren Platz in den Ausstellungsräumen. Das ist eine gute Entwicklung.

Die Fragen stellte Anastassija Buschujewa

Sergej Tjunin

Sergej Tjunin

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