Das Zünglein an der Waage

Lange verlief die Integration von Einwanderern aus der früheren Sowjetunion in Deutschland relativ geräuschlos, bis der Fall Lisa vor einem Jahr plötzlich Trennlinien offenbarte, die bis dahin niemand wahrgenommen hatte und die erst jetzt thematisiert werden. Vor den Bundestagswahlen entdeckt nun auch die deutsche Politik diese Gruppen als neue Klientel.

Fall Lisa: Vor rund einem Jahr protestierten in Deutschland lebende Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Foto: REUTERS

In Deutschland leben 2,4 Millionen Russlanddeutsche, die als Aussiedler bzw. Spätaussiedler in den 1990er  Jahren nach Deutschland kamen. Daneben gibt es etwa 215 000 Kontingentflüchtlinge mit jüdischem Hintergrund und gut 230 000 Menschen, die ausschließlich einen russischen Pass besitzen. Nun saßen die Vertreter dieser drei Gruppen und die Entscheidungsträger in Sachen Integration zum ersten Mal zusammen auf einem Podium. Die Plattform für den Dialog bot die Bundeszentrale für politische Bildung an, die die Fachtagung „Aussiedlung – Beheimatung – Politische Teilhabe: Deutsche aus Russland in Wechselwirkung mit russischsprachigen Gruppen in Deutschland“ in Berlin organisiert hat.

Gibt es überhaupt eine Wechselwirkung zwischen diesen drei Gruppen? Sie gab es schon einmal. Und zwar vor einem Jahr, als die 13-jährige Lisa aus Berlin-Marzahn angeblich vergewaltigt wurde und Hunderte russischsprachige Menschen auf die Straßen gingen, mit der Forderung an die Polizei, den Fall aufzuklären, und an den Staat, mehr Sicherheit in Zeiten der Flüchtlingskrise zu gewährleisten. Öl ins Feuer gossen damals die russischen Staatsmedien, die über den Fall Lisa ausführlich berichteten.

Doppelpass – ein Interessenkonflikt?

Bis zu diesem Fall seien die Russlanddeutschen nicht auf der politischen Agenda gewesen. „Sie waren nicht auffällig“, so Sergey Lagodinsky von der Heinrich-Böll-Stiftung, schließlich galten Russlanddeutsche bis dato als Beispiel einer gelungenen Integration. „Jetzt verändert sich vieles, und das nicht nur wegen Lisa, sondern weil die Gesellschaft sich verändert. Es entstehen neue Definitionen der Zugehörigkeit.“ Besonders im Hinblick auf die Möglichkeit, zwei Pässe zu besitzen – unter den Russlanddeutschen sind es etwa 700 000, die sowohl den deutschen als auch den russischen Pass haben. Der russische Staat fühle sich verpflichtet, seine Bürger zu schützen – auch „unser Mädchen Lisa“, kommentierte damals der russische Außenminister Sergej Lawrow.

Ein relativ neues Thema ist die Diaspora-Politik. An sich ist die Diaspora-Politik eine völlig legitime Praxis, sie kann jedoch zu Interessenkonflikten führen, insbesondere wenn die Verhältnisse zwischen dem Herkunftsland der Migranten und dem Einwanderungsland angespannt sind. Die Beziehung zwischen Russland und Deutschland oder Türkei und Deutschland sind dafür ein Beispiel, so die Soziologin Ljudmila Belkin. Auch der russische Medienkonsum wurde bei der Tagung kritisch unter die Lupe genommen. Der Vorwurf, die Russlanddeutschen seien die „fünfte Kolonne Putins“, wog schwer und hinterließ bei vielen Ratlosigkeit. „Wir hatten das Gefühl, dass es keine Gerechtigkeit gibt. Wie konnten wir uns nur so ausnutzen lassen?“, sagt Alexander Reiser aus dem Marzahner Aussiedler-Verein „Vision e.V.“: „Ein zweiter Fall Lisa wird nicht passieren.“

„Wir sind keine Migranten“

Wie ticken die Zugezogenen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion? Etwa 40 Prozent von ihnen schauen nur russisches Fernsehen und Internetseiten, so das Ergebnis einer Studie der Boris-Nemtsov-Foundation „Die Russen in Deutschland“ vom Oktober 2016. Dem russischen TV vertrauen demnach 30 Prozent der Befragten, westlichen Sendern dagegen nur 19 Prozent. Lagodinsky nennt die Deutschen, Juden und Russen aus Russland „Menschen aus der Sowjetunion mit bestimmter Mentalität“. Der Soziologe Jannis Panagiotidis spricht gar vom „Ethnoproletariat“, weil die meisten Russland-deutschen im Handwerk tätig sind. Letztlich seien sie „alle Migranten“, so Panagiotidis. Doch das löste ein gespaltenes Echo bei den anderen Teilnehmern aus. „Das könnten wir in der Landsmannschaft nicht verkaufen: Russlanddeutsche sind keine Migranten“, sagt Dietmar Schulmeister, Landesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in NRW. „Man sagt uns hier: Ihr seid eine homogene Gruppe. Nein, sind wir nicht“, so Waldemar Eisenbraun, der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft.

Vor den Bundestagswahlen bemühen sich die Parteien, diese bis jetzt unbekannte Klientel für sich zu gewinnen. Denn zumindest „dort, wo es Proteste gab, werden die Russlanddeutschen diejenigen wählen, die ihnen damals sagten: ‘Ja, wir verstehen dich‘“, meint die CDU-Politikerin Eleonora Heinze. So werben bereits einige Parteien mit Programmen auf Russisch. Auch den Wahl-O-Mat wird es zum ersten Mal in dieser Sprache geben.

Die Suche nach Gemeinsamkeiten unter den drei großen Einwanderungsgruppen aus der ehemaligen Sowjetunion sowie der Mehrheitsbevölkerung geht weiter.

Olga Silantjewa 

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