Weltliteratur für lange Ferientage

Drei Monate russische Sommerferien gehen nächste Woche zu Ende. Für Millionen Schüler heißt das, eine Hausaufgabe abzuschließen, wie sie einer Lesenation würdig ist: Die Lehrer haben ihnen vor Ferienbeginn lange Listen mit Buchempfehlungen ans Herz gelegt. Während die einen stöhnen, sind andere dankbar.

„Drei Musketiere“, „Die geheimnisvolle Insel“, „Robinson Crusoe“ und viele weitere Klassiker stehen im „Haus des Buches“ zur Auswahl. / Tino Künzel

Das „Haus des Buches“ auf dem Neuen Arbat ist eine der größten Buchhandlungen in Moskau. Allein die Kinderabteilung nimmt die Hälfte des Erdgeschosses ein. „Den ,Kleinen Prinzen‘ suchen Sie? Da drüben haben wir für ihn einen extra Ladentisch eingerichtet“, sagt eine Verkäuferin aufmunternd. Manche Bücher füllen in verschiedenen Ausgaben ganze Regale, die mit kleinen Kärtchen versehen sind. Sie richten sich an den unwissenden oder zweifelnden Kunden und legen ihm das jeweilige Werk ans Herz. Zum Beispiel „Timur und sein Trupp“ von Arkadij Gaidar, ein Aushängeschild der sowjetischen Kinder- und Jugendliteratur. Ist so etwas heute noch aktuell? Auf dem Kärtchen, das die Buchhandlung ans Regal geheftet hat, heißt es dazu: „Dieses Buch wurde 1940 verfasst und Vieles in unserem Leben hat sich seitdem verändert, doch die Geschichte der guten, tapferen, gerechten und rechtschaffenen Jungen und Mädchen, die für ihre Ideale eintreten, ist mitnichten veraltet.“

Leseratten würden sich im „Haus des Buches“ wahrscheinlich am liebsten einquartieren. Andere sind ein wenig überfordert. Ein Mann und eine Frau schieben sich ziellos durch die Korridore, klappen unentschlossenen den einen oder anderen Buchumschlag auf. „Was hast du eigentlich in den Ferien gelesen, als du noch zur Schule gingst?“, fragt die Frau. Der Mann unterdrückt ein Gähnen: „Im Sommer habe ich gar nichts gelesen.“

Den „Kleinen Prinzen“ würdigt die Buchhandlung am Neuen Arbat mit einem eigenen Tischchen. / Tino Künzel

Gegenüber vom Stand mit der Harry-Potter-Reihe stehen einige Tische und Schränke, die mit „Außerschulisches Lesen“ überschrieben sind. Sie sind von Kindern und ihren Eltern umlagert. Immer wieder fällt das Wort „Liste“, auf der die betreffenden Bücher verzeichnet oder nicht verzeichnet sind. Was es damit auf sich hat, weiß in Russland jedes Schulkind. Und während es die einen als leidvolle Erfahrung bezeichnen würden, freuen sich andere das ganze Jahr darauf: Vor den großen Fe­rien, die in Russland drei Monate dauern, bekommen sie traditionell von den Grundschul- oder Literatur­lehrern ihrer Schule entweder in mündlicher, aber meist in schriftlicher Form Bücherempfehlungen für den Sommer. Die Listen sind je nach Klasse unterschiedlich, meist lang und umfassen teils mehrere Dutzend in- und ausländische Buchtitel, die entweder nicht zum Lehrplan gehören oder aber in der Schule behandelt werden, aber dermaßen dicke Wälzer sind, dass es keiner schafft, sie in der Unterrichtszeit zu lesen. So wie „Krieg und Frieden“ etwa.

Die Bereitschaft, auch nur ein oder zwei der empfohlenen Bücher in die Hand zu nehmen, ist bei den Kindern unterschiedlich ausgeprägt. „Einige schauen sich die Liste nicht einmal an“, sagt eine Lehrerin. Direkte Konsequenzen hat das nicht. Das Lesen in den Ferien ist nicht verbindlich, aber erwünscht und in mancherlei Hinsicht hilfreich.

Drei Lehrerinnen aus verschiedenen Ecken Russlands haben der MDZ mehr über diese berühmt-berüchtigte Hausaufgabe erzählt.

 

Raissa Fedossowa

Mittelschule im Dorf Zwetnopolje, Deutscher Nationalrajon Asowo bei Omsk

Ich bin seit 43 Jahren im Schuldienst. Die heutigen Kinder lesen natürlich weniger, als das früher der Fall war. Aber es gibt solche und solche. Für manche ist das Lesen trotz allem selbstverständlich. Andere fangen mit der Literatur, die wir ihnen für die Ferien mit auf den Weg geben, erst im August an. Ganz darum herum kommt keiner, schon weil das hier ein kleiner Ort ist und wir uns immer mal über den Weg laufen. Da frage ich natürlich nach, wie es mit den Büchern steht.

Das Lesen in den Ferien ist wichtig, damit das Handwerk, die Technik des Lesens nicht verlorengeht. Aber Bücher geben uns ja auch viel. Mit ihrer Hilfe sehen wir die Welt mit neuen Augen, sie lehren uns, anders zu denken, anders zu leben.

Wir haben an unserer Schule und in unserem Ort zwei große Bibliotheken, wo man alles finden kann, was das Herz begehrt. Wenn ich höre, dass ein Schüler irgendeinen Textausschnitt im Internet gelesen hat, werde ich wirklich böse. Ich frage dann: Lebt ihr in der Tundra bei den Rentierhirten, dass ihr nicht zum betreffenden Buch greifen könnt? Tolstoi in einer Zusammenfassung zu lesen, ist unmöglich, so etwas ärgert mich maßlos.

 

Vera Rotschewa

Technisches Lyzeum in Uchta, Komi-Republik

Würden wir den Kindern nichts zum Lesen aufgeben, dann würden die sagen: Hurra! Aber der Appetit kommt beim Essen, das wissen wir alle. Und wenn ein Buch sie richtig packt, dann können sie gar nicht mehr aufhören. Doch dafür brauchen sie oft einen kleinen Schubs, jemanden, der ihnen die Richtung weist. Auch, damit sie nicht allen möglichen Schund lesen.

Die größten Probleme haben wir in den mittleren Klassen. Jüngere Kinder lesen meist noch gern, und in den oberen Klassen sind die Schüler schon wegen der Prüfungen zum Lesen verdammt. Aber so ungefähr von der fünften bis zur achten Klasse ist es wirklich ein Elend.

Schüler sollen lesen, damit sie sich moralisch weiterentwickeln, Gut von Böse zu unterscheiden lernen. Damit sie auch sprachlich wachsen. Nicht zuletzt möchten wir ihnen literarischen Geschmack vermitteln, das hilft ihnen später bei der Auswahl der Bücher, die sich wirklich zu lesen lohnen.

Was wir für den Sommer empfehlen? Eine gewisse Orientierung bietet die Liste der „100 Bücher für das eigenständige Lesen“, die das Bildungs- und Wissenschaftsministerium für Mittelschulen herausgegeben hat. Aber daneben hat jeder Lehrer auch seine eigenen Lieblingsbücher. Denen, die in die fünfte Klasse kommen, rate ich unter anderem zu „Robinson Crusoe“ und zu den „Abenteuern des Huckleberry Finn“. Ich sage den Kindern auch, was davon „fürs Gemüt“ ist und was wir in der Schule durchnehmen werden. Wenn jemand etwas anderes liest – auch gut. Und in der ersten Stunde nach den Fe­rien reden wir dann alle gemeinsam darüber.

 

Olga Gribowa

4. Schule in Marx, Region Saratow

Die Eltern sind gern bereit, Bücher zu kaufen. Wir als Schule schenken Bücher auch zu Geburtstagen – immer dasselbe, damit wir es später gemeinsam besprechen können. Dann gibt es natürlich die Bibliotheken, von unserer Schul- über die Stadt- bis zur Kreisbibliothek. Unsere Leseförderung bei jüngeren Kindern fängt deshalb damit an, ihnen zu zeigen, wo sich die Bibliotheken befinden, und sie zu besuchen. Es gibt Kinder, die regelmäßig in die Bibliothek gehen. Was ich aber immer wieder höre, ist die Frage: Was könnte ich denn mal lesen? Manchmal wissen da selbst die Eltern nicht weiter.Als Grundschullehrerin habe ich diesmal keine konkreten Empfehlungen gegeben. Das oberste Gebot ist: Die Kinder sollen lesen, was sie interessiert. Meist sind das Bücher, die sie zu sich in Beziehung setzen können, die mit Lebenssituationen zu tun haben, die ihnen vertraut sind. Die Hauptsache ist, dass wir überhaupt das Lesen fördern, die Liebe zum Lesen. An unserer Schule veranstalten wir zum Beispiel Familienlesetage, die sich großer Beliebtheit erfreuen. Die Eltern sind sehr daran interessiert. Zu Hause hat man heute leider nicht sehr viele Bücher und um die Lesefreude ist es generell nicht sehr gut bestellt. Andererseits erlebe ich immer wieder, dass Kinder sich für einen Tipp bedanken: „Schön, dass Sie uns das aufgegeben haben. Wir wussten ja gar nicht, dass es so etwas gibt.“

 

„Der kleine Prinz“ wird im „Haus des Buches“ auf dem Neuen Arbat mit einem eigenen Tischchen gewürdigt.

„Drei Musketiere“, „Die geheimnisvolle Insel“, „Robinson Crusoe“ und viele weitere Klassiker stehen im Buchladen zur Auswahl.

 

Lesen, weil sonst Mama die Leviten liest

Der zwölfjährige Danil aus einer Stadt in Nordrussland kommt am 1. September in die sechste Klasse. Noch hat er Ferien, aber so ganz genießen kann er sie nicht, wie er im Sozialnetzwerk VKontakte verrät.

Was machst du so in den Sommerferien?

Ich lese und spiele Fußball und hänge mit Freunden rum.

Du liest? Das ist ja mal eine Neuigkeit.

Die Schule hat uns Bücher aufgegeben 🙁

Zum Beispiel?

„Die geheimnisvolle Insel“ (Jules Verne), „Der kleine Prinz“ usw. Und alle haben mehr als 100 Seiten …

Du Ärmster! Aber das sind doch tolle Bücher. Und Lesen kann dir wirklich nichts schaden. Zumal, wenn du drei Monate Zeit dafür hast.

Stimmt. Aber jetzt muss ich Schluss machen. Meine Mama sagt, dass ich lesen soll.

 

Von Astrid Lindgren bis zu den Brüdern Grimm

Das sind die Leseempfehlungen eines Gymnasiums im nordrussischen Uchta für die Schüler der fünften bis achten Klassen – allein an ausländischer Literatur. Insgesamt stehen auf der Liste für jeden Jahrgang im Schnitt zwischen 20 und 30 Werke.

5. Klasse

Daniel Defoe: Robinson  Crusoe

Hans Christian Andersen: Des Kaisers Nachtigall

Mark Twain: Die Abenteuer des Tom Sawyer

Joseph Henri Rosny: Am Anfang war das Feuer

Jack London: The Story of Keesh

Astrid Lindgren: Michel aus Lönneberga

6. Klasse

Brüder Grimm: Schneewittchen

Jack London: Liebe zum Leben

O. Henry: Das Lösegeld des Roten Häuptlings

7. Klasse

Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel

Arthur Conan Doyle: Der blaue Karfunkel

Antoine de Saint-Exupéry: Wind, Sand und Sterne / Der kleine Prinz

8. Klasse

William Shakespeare: Romeo und Julia

Miguel de Cervantes: Don Quijote

E.T.A. Hoffmann: Nußknacker und Mausekönig

 

 

 

 

 

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