Das ist Niedersachsen

Wer ist die junge Russin, die ein ganzes Bundesland vertritt?

Russland ist ja riesig und Moskau ist der mit Abstand größte Schmelztiegel unseres Kontinents, ein Magnet für Menschen aller Couleur, mit ungewöhnlichen Talenten, mit erstaunlicher Schaffenskraft. Manche bringen es nach oben, manche bleiben unten. Die meisten mittendrin. Unser Autor Frank Ebbecke stellt sie hier vor.
Heute: 
Anna Urumyan, Leiterin einer deutschen Landesvertretung

Anna Urumyan / Privat

Anna Urumyan / Privat

Da sitzt sie mit stramm durchgedrücktem Rücken hinter ihrem reichlich vollgepackten Schreibtisch. Im tiefroten Jerseykleid. Hochgeschlossen, aber figurbetont. Das kann sich die 35-Jährige auch wunderbar leisten. Die natürlich hellroten, schulterlangen, leicht gekräuselten Haare sorgfältig in Form gefönt. Make-up und Lippenstift dezent aufgelegt. Die Frau ist eine Führungskraft. Bleibt aber eben immer ganz Frau. So Sitte in Russland, wo dem Vernehmen nach quotenmäßig mehr weibliche Manager auf den oberen Sprossen der Karriereleiter angekommen sind als in Deutschland. Wie schön.

Anna Urumyan. Visitenkarten hat sie gleich zwei. Die eine mit dem weißen, springenden Pferd auf rotem Grund, dem Landeswappen. Leiterin der Vertretung des Landes Niedersachsen in der Russischen Föderation. Mit immerhin zwei Adressen: Schloss Celle und in Moskau im „Haus der Deutschen Wirtschaft“. Die andere sagt „Deutsche Management Akademie Niedersachsen“, Leiterin der Repräsentanz. Eine zweifache Botschafterin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und professionelle, praxisbezogene Weiterbildung.

Anna Urumyans nähere Arbeitsumgebung ist dann auch etwas mehr klassisch feminin, gleichwohl mit beruflich bezogenem Einschlag. Direkt im Blickfeld an der Wand auf mindestens einem Quadratmeter wild durcheinander geklebte Postkarten aus vielen schönen Ecken dieser Welt. Die wenigsten geschickte, mehr vor Ort selbst gekaufte. Reisen, besonders in fremde Städte, das gefällt ihr. Daran erinnert auch das riesige Büschel übereinandergehängter Namensschilder. Ihre natürlich. Von unzähligen Konferenzen, Messen, Geschäftsmeetings. Aber dann erst das Plakat zu ihrem letzten Geburtstag. Handgefertigt von ihren Kollegen, Mitarbeitern und Freundinnen. Das, was die Entourage Anna darauf wünscht, beschreibt ziemlich spitz, was sie ausmacht und wie sie bei anderen ankommt: „Tue erst das Notwendige, dann das Mögliche und dann das Unmögliche“. „Schenke jeden Tag ein bisschen von der Schönheit Deines Herzens.“ „Genieße Dein Leben.“ Das tut sie sogar bisweilen ganz gern beim Basteln, Nähen und Stricken zuhause. Wenn sie da überhaupt mal ist.

Vom Lande in die große Stadt. Dieses Sehnen beflügelt Millionen von Russen aus jeder noch so entfernten Ecke der flächenmäßig größten Nation der Erde. Schon immer, und heute noch viel mehr. Lebensziel Moskau. Hier, wo viele dann doch nicht recht auf immergrüne Zweige kommen, ist Anna Urumyan heute bestens verwurzelt. Getreu ihrer Devise „nie aufgeben, nie unterkriegen lassen, immer wieder Neues probieren“.

Das ging schon früh los, da, wo sie herkommt: Nowoderewjankowskaja, einem sogenannten Staniza-Dorf im Kosakengebiet um Krasnodar, mit 7000 Einwohnern. Mutter Alla ist dort die Kinderärztin, ihr Vater Nikolaj, ein studierter Elektroingenieur, im lokalen Kolchose-Kader. Von ihm hat sie eine gesunde Dosis freiwirtschaftliches Gedankengut mitbekommen, das er bei seinen Erfahrungsreisen in den Westen am Anfang des neuen Russlands mitbekam, im öffentlichen Auftrag zum Aufbau des Agrarsektors. Mittlerweile ist daraus längst der Landwirtschaftsbetrieb „Druschba“ geworden, ein großflächiger Getreide- und Zuckerrübenanbau mit 3000 Kühen und viel anderem Vieh. Der Vater ist dort Partner und Manager, Annas älterer Bruder Sergej steht ihm dabei zur Seite.

1992 kommt eine Wirtschaftsdelegation aus Dortmund ins Dorf. Das Zuhören beim Dolmetschen für die Gäste macht ihr Spaß. Nach Schulabschluss zieht sie mit 17 nach Krasnodar zum Deutschstudium. Und 2004 dann ab nach Moskau. Über das Internet kann sie schnell ihre deutsche Sprachkompetenz ausspielen und landet schließlich in der niedersächsischen Landesvertretung. Sie fängt als Assistentin an, steigt rasch auf, macht auf Kosten des Arbeitgebers in zwei Jahren ihren MBA, wofür sie sich verpflichtet, drei weitere Jahre danach zu bleiben. Gerne doch. Denn nun ist sie bereits im fünften Jahr höchstverantwortlich für Niedersachsens russische Präsenz. Als ihr das angedient wurde, war sie gerademal 30.

Das ist die neue Welt des lebenslustigen „Mädels vom Lande“. Niedersachsen war zwar Schicksal und Zufall, passt aber irgendwie auch zu ihr: Gibt es dort doch eine klare Heimatverbundenheit. Der Südwesten Niedersachsens ist ja der deutsche Landstrich, wo pro Hektar die meisten Schweine leben und geschlachtet werden. Und das Agrarzentrum Wiet­ze kann sich mit einem eigenen kontinentalen Rekord schmücken: Hier wird das Geflügel im Akkord maschinell geköpft – 450 pro Minute. Aber, so wiegelt sie ab, Niedersachsen hat wirtschaftlich doch noch viel mehr auf der Pfanne. Wolfsburg ist schließlich die Heimat von Volkswagen und Hannover Stammsitz des weltweit größten Zuliefererbetriebs dieser Schlüsselindustrie – Continental. Dort residiert auch TUI, eines der globalen Touristikunternehmen. Nicht zu vergessen die Papenburger Meier-Werft an der kleinen Weser, wo die riesigen Kreuzfahrtschiffe vom Stapel laufen.

Anna Urumyan, eine Südrussin, die Reklame für das norddeutsche Niedersachsen läuft. Langweilig, versichert sie, wird ihr dabei nie. Und den Leuten um sie herum auch nicht: drei weitere Frauen, vier Männer. Beratung, Vernetzung, Organisation, Durchführung. Im so getauften „Business Pool“ der Vertretung werden inzwischen niedersächsische Firmen konkret in administrativen Fragen wie Einfuhrbestimmungen, Verzollung und Fakturierung betreut. Und der Kundenstamm wächst und gedeiht, sagt sie. Die letzte Aprilwoche waren zum Beispiel echte Großkampftage: Hannover Messe, die wichtigste Industrieshow der Welt. Mit dabei eine Mammut-Delegation der Moskauer Stadtregierung. Auch Anna war mitverantwortlich dafür, dass letztendlich etwas Nachzählbares rauskommt, für die russische Hauptstadt und im Umkehrschluss natürlich für Unternehmen mit Heimatstandort Niedersachsen. Wird schon. Ein langjähriger Beraterkollege an der Basis in Celle, Frank Neumann, lobt: „Anna ist sehr ideenreich und lösungsorientiert, es macht einfach Spaß, mit ihr zusammenzuarbeiten.“ Na denn.

Dass Anna sich in der Dorfschule auf das Deutschlernen verlegte, war damals mehr oder weniger Schuld sowjettypischer Mangelplanung. Fremdsprachen waren Pflicht, aber nur Deutsch stand zur Wahl. Da hat Anna schlicht aus der Not eine Tugend gemacht. Denn die Hochsprache Goethes ging ihr gleich flott von der Zunge. Schön fand sie sie noch dazu. Und ihre Lehrerin war toll, sagt sie. Sie sind immer noch in Kontakt. Deutsch sollte sie nicht mehr loslassen, es wurde zum Wegweiser auf ihrem Berufsweg. Heute spricht Anna die Sprache wie eine Deutsche. Da hilft es selbstredend, dass sie seit einigen Jahren Tisch und Bett mit einem Deutschen teilt. Der stammt allerdings aus dem Rheinland. Das hart rollende russische ‚R‘ ist bei ihr kaum mehr zu hören. Dafür stößt sie als quasi Hannoveranerin, wo ja der Sprachwissenschaft zufolge das allerreinste Hochdeutsch gesprochen werden soll, aber nun doch nicht mit dem „s-pitzen S-tein“ an. An den Deutschen mag sie vor allem, dass die „weit nach vorne sehen, Konsequenzen erkennen und mitdenken“, lobt sie. Wohl nicht gerade typische Merkmale des Durschnittsrussen. Ihre Vorurteile hat sie aber längst und aus guter Erfahrung in die Schublade gelegt. Interessante Menschen, so ihr Gefühl, die gäbe es doch schließlich überall. Weniger angenehme ebenso.

Wer ist Anna Urumyan nun? Eine geborene Russin? Oder eine gelernte Deutsche? Wohl beides. Einfach die Sorte Mensch, die jeder gern zum Freund hat. Und erfolgreich obendrein. Für die Wirtschaft im deutschen Niedersachsen wie für die hier zu Hause.

Frank Ebbecke

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