Lenin, frische Luft und stilsichere Frauen: So erleben chinesische Touristen Russland

2013 war das letzte Jahr, in dem die Deutschen unter den ausländischen Touristen in Russland die größte Gruppe stellten. Inzwischen sind die Chinesen ungefähr doppelt so zahlreich, ein Boom, der in Moskau an allen Ecken und Enden beobachtet werden kann. Wie ist er so, der Besucher aus Fernost? Und was macht er sich aus Russland?

Perwomajskoje ist ein kleiner Ort mit 1300 Einwohnern rund 30  Kilometer vom Moskauer Stadtzentrum entfernt. Die wenigsten Moskauer waren schon einmal hier, dafür aber viele Touristen aus dem tausende Kilometer entfernten China. Für sie ist die Gemeinde ein Russlandklassiker wie der Kreml und der Rote Platz, denn Perwomajskoje hat im Landgut Staro-Nikolskoje aus dem 17.  Jahrhundert eine Sehenswürdigkeit zu bieten, die mit der chinesischen Geschichte verknüpft ist: Auf dem Gelände fand 1928 der einzige im Ausland abgehaltene Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas statt, die daraus geeint und gestärkt hervorging. Das hat das Landgut zu einer Pilgerstätte für Chinesen gemacht. Zu Sowjetzeiten immer weiter verfallen und später auch noch ausgebrannt, wurde es 2013 dem Chinesischen Kulturzentrum in Moskau für 49 Jahre verpachtet und erstand binnen weniger Jahre in alter Pracht wieder auf. Diesen Sommer eröffnete dort eine Ausstellung zum Parteitag vor 88  Jahren.

Das soll natürlich nicht heißen, dass die chinesischen Touristen in Russland nur auf verschlungenen Pfaden unterwegs sind und einem roten Faden der Geschichte folgen. Man begegnet ihnen genauso in der Moskauer Metro, auf dem Arbat oder auf der Aussichtsplattform an der Lomonossow-Universität – also dort, wo sich auch Touristen aus anderen Ländern bevorzugt aufhalten. Mit dem Unterschied, dass die Chinesen viel zahlreicher sind. Seit 2010 hat sich ihr Besucheraufkommen in Russland mehr als vervierfacht. Und es steigt weiter. Nach neuesten Angaben der russischen Grenzbehörden lag der Zuwachs im ersten Halbjahr 2016 bei 34 Prozent gegenüber demselben Zeitraum des Vorjahres. Bereits 2014 haben die Chinesen die Deutschen als größte Touristennation in Russland abgelöst.

Touristen

Hallo Nachbar! Chinesische Reisegruppe vor dem Triumphbogen am Siegespark in Moskau. / Tino Künzel

Dana Chi, Rentnerin aus dem südchinesischen Guangzhou, besichtigt gerade den Roten Platz, als sie für uns die Frage beantworten soll, was ihr an Russland gefällt. „Ich liebe die russische Geschichte und Kultur“, beginnt die 56-Jährige. „Wir sind Nachbarn und Freunde, haben viele Gemeinsamkeiten und sind doch so verschieden. Aber am meisten habe ich mich auf die Architektur hier gefreut“, sagt sie mit glänzenden Augen und zeigt auf die Basilius-Kathedrale.

Laut Statistik ist der typische Russlandtourist aus China weiblich (63 Prozent), reist in der Gruppe (80 Prozent) und ist um die 50  Jahre alt, wobei eine Tendenz zur Verjüngung zu beobachten sein soll. Während er eine Gruppe chinesischer Geschäftsleute über den Roten Platz führt, erklärt Fremdenführer Markis, viele Chinesen erlebten in Russland einen Aha-Effekt: „Die Älteren haben oft ein verstaubtes Bild von Russland und sind dann überrascht, wie modern und westlich es doch ist.“ Bei den Reisezielen führt mit großem Abstand Moskau, auf das 50 Prozent aller Reisen entfallen, während St. Petersburg nur von jedem zehnten chinesischen Touristen besucht wird. Wachsender Beliebtheit erfreuen sich russische Regionen an der Grenze zu China, allen voran die Primorje-Region um Wladiwostok (20 Prozent der Reisen)  und die Amur-Region (14  Prozent). Das will zumindest „Mir bes Graniz“ (Welt ohne Grenzen), ein Verband russischer Reiseveranstalter mit China-Bezug, herausgefunden haben. Geschäftsführerin Swetlana Pjatichatka sagte der MDZ, die chinesischen Touristen zeichneten sich dadurch aus, dass sie „in kurzer Zeit möglichst viele Sehenswürdigkeiten, Städte und UNESCO-Welterbestätten zu besuchen“ wünschten.

Die Reiselust der Chinesen hat in jüngster Vergangenheit immer mehr zugenommen. 2015 waren es dem China Tourism Research Institute zufolge bereits 120 Millionen Menschen, die ins Ausland reisten. Damit waren die Chinesen in absoluten Zahlen das dritte Jahr in Folge Reiseweltmeister. Aber nicht nur das macht sie zu gern gesehenen Gästen: Sie geben auch mehr Geld aus als andere Nationen. Eine entsprechende Rangliste der Welttourismusorganisation (UNWTO) sieht sie mit großem Abstand auf Platz eins vor den Amerikanern, den Deutschen und den Russen.

Beliebteste Reiseländer der Chinesen sind Nachbarländer wie Südkorea, Hongkong und Thailand. Russland rangiert unter den Top  20 und partizipiert in vergleichsweise bescheidenem Umfang am Tourismus aus China. Dennoch  bemühen sich die Russen stark und offenbar erfolgreich um die Gäste aus dem Nachbarland. Dazu trägt unter anderem ein bilaterales Abkommen zum Reiseverkehr bei, das es Chinesen in Gruppen von fünf bis zu 50 Personen erlaubt, Russland bis zu 15 Tage visafrei zu bereisen. Auch die Reisebranche gibt sich Mühe, das Interesse der chinesischen Touristen zu wecken. So hat „Mir bes Graniz“ etwa eine „rote Route“ erstellt, die Uljanowsk, Kasan, Moskau und St. Petersburg miteinander verbindet  – Orte, die in der Biografie von Lenin eine besondere Stellung einnehmen. Auf dem renommierten Moskauer Neujungfrauenfriedhof beim gleichnamigen Kloster haben Chinesen die Gelegenheit, am Grab von Wang Ming zu stehen, dem „chinesischen Trotzki“, der 1956 China im Streit mit der Parteiführung verließ, um sich in der Sowjetunion medizinisch behandeln zu lassen, und nie mehr zurückkehrte. 1974 starb er in Moskau.

Zurück auf dem Roten Platz: Mehrere Touristen preisen auf Nachfrage die Sauberkeit der russischen Hauptstadt und ihre – gefühlt – so frische Luft. Messungen sprechen hin und wieder eine andere Sprache, doch im Vergleich zur Luftqualität in chinesischen Städten kann sich Moskau offenbar sehen lassen. Einige Chinesinnen erzählen, dass die russischen Frauen für sie eine Quelle der Inspiration seien, was ihr Aussehen und ihren Sinn für Mode betrifft.

Beim Shopping lässt sich der chinesische Tourist traditionell nicht lumpen. Schmuck, Markenkleidung und die einschlägigen Russlandsouvenirs von der Matrjoschka bis zum Goldlöffel stehen auf dem Einkaufszettel ganz oben. Der Rubelverfall macht Vieles geradezu zum Schnäppchen. Vor zehn Jahren war ein chinesischer Renminbi Yuan 3,3 Rubel wert. Heute bekommt man dafür etwa das Dreifache.

Jana Weber

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