Blinde Verbundenheit zu Deutschland

Ende September erreicht uns ein verzweifelt klingender Brief auf Deutsch: Natalija Pisarenko ist blind und sehnt sich nach Umgang mit Deutschen und ihrer Sprache. Wir haben diese rundum außergewöhnliche junge Frau getroffen.

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Natascha in dem Cafe in der Nähe ihrer Wohnung / Jana Weber

Die schweren Holzmöbel und breiten Gänge des Café Mu-Mu gefallen Natascha wie auch die lebensgroße Kuh vor der Eingangstür. Hier kann man vieles ertasten, das ist ihr sehr wichtig, erzählt die 20-Jährige in einwandfreiem Deutsch. Natascha ist von Geburt an blind – sie sieht nur, ob es Tag oder Nacht ist, etwa so, wie man bei geschlossenen Augen die Sonne wahrnimmt.

Brief an die MDZ

„Liebe Leserinnen und Leser,

ich heiße Natascha Pisarenko. Ich bin von Geburt an blind und studiere Operngesang und Klavier. Außerdem schreibe ich Gedichte und liebe die deutsche Sprache und Kultur. Es macht mir wirklich sehr viel Spaß, auf Deutsch zu sprechen. Ich suche jemanden, der mir dabei ein bisschen helfen könnte. Ganz gleich, ob Jung oder alt, wenn Sie Freizeit haben, schreiben Sie mir bitte an natashapisarenko@mail.ru.

Ich verspreche meinerseits, Ihre Kenntnisse der russischen Sprache zu verbessern und natürlich ein bisschen für Sie zu singen.“

Natascha

Vor vier Jahren zog Natascha von ihrer Geburtsstadt Rostow am Don nach Moskau, um an der Staatlichen Spezialisierten Kunstakademie Operngesang und Klavier zu studieren. Die Hochschule ist eigens für Menschen mit Behinderung ausgelegt und auch die einzige ihrer Art in Moskau – nach eigenen Angaben sogar in der ganzen Welt. Obwohl Natascha ihr Studium sehr gefällt, würde sie lieber an einer normalen Uni studieren. „Ich war ja auch an einer normalen Schule und das hat bestens geklappt.“

Da Therapien in Russland nicht halfen, brachte Nataschas Vater sie mit 10 Jahren zu einer Untersuchung nach Köln. Sie besichtigte Museen, sprach mit Menschen und verliebte sich in Deutschland, dessen Sprache sie seitdem lernt – meist selbstständig, weil sie nur selten jemanden fand, der mit ihr üben konnte. „Ich habe mich auch auch an deutsche Organisationen gewandt, jedoch gab es immer Absagen. Es hat niemand Zeit oder es fehlt an Erfahrung im Umgang mit Blinden.“Einmal im Jahr nimmt Natascha an Integrationsprogrammen in Deutschland teil. Dort sei das Leben behindertengerechter. Während ihr in Russland zum Beispiel selten gestattet werde, Hausfassaden und Monumente zu betasten, schwärmt sie von einem Erlebnis in Potsdam: „Im Miniaturenpark konnte ich die Kirche, die Kuppel, die Fenster und einfach alles anfassen. Das ist ex­trem wichtig für uns blinde Menschen, weil wir uns so ein Bild von der Welt machen, in der wir leben. Wir können ja nicht auf die echte Kuppel fliegen, um sie zu ertasten“, erklärt sie lachend.

Neben ihrer Leidenschaft für Musik und die deutsche Sprache ist Natascha auch sozial engagiert. Sie setzt sich nicht nur für ihre eigenen Rechte ein, sondern versucht im Allgemeinen, mehr Gerechtigkeit und Ansprüche für behinderte Menschen in Russland zu erkämpfen. So erreichte die junge Studentin Anfang 2013 große mediale Aufmerksamkeit, als sie sich in ihrem Blog mit einem öffentlichen Brief an Präsident Putin wandte und das Adoptionsverbot russischer Waisenkinder für US-Staatsbürger kritisierte. Gerade benachteiligte Kinder würden in Russland oft in Waisenhäuser gesteckt und nur in den seltensten Fällen von anderen Familien adoptiert, sagt sie. US-Amerikaner würden sich dagegen auch behinderter Kinder anzunehmen. Natascha wurde daraufhin von Zeitungen und Fernsehsendern interviewt. Doch geändert habe sich für die Waisenkinder nichts. „Sie bleiben noch immer in diesen schlimmen Kinderheimen. Das größte Problem der Menschen ist die Gleichgültigkeit.“

Natascha gibt die Hoffnung auf Veränderung aber nicht auf. Sie appelliert auch an andere gehandicapte Menschen, sich nicht zu Hause zu verschanzen und zu schweigen, „Behinderte müssen sich ihrer Umwelt mehr öffnen. Sie müssen rausgehen, kommunizieren, und versuchen, die Welt Tag für Tag ein Stückchen besser zu machen.“

Jana Weber

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