Bittere Medizin: Russlands neue Nationalgarde und ihre Nebenwirkungen

Im Paradies gibt es keine, Russland hat jetzt gleich zwei davon: Armeen. Manche malen gleich die Diktatur an die Wand, doch es gibt auch weniger plakative, dafür aber handfeste Nebenwirkungen der Hauruckreform der inneren Sicherheit.

Von Bojan Krstulovic

OMON-Einheiten sorgen in einem Dorf im Gebiet Tula für Ordnung, wo es im März zu den sogenannten „Zigeuner-Aufständen“ kam / RIA Novosti

OMON-Einheiten sorgen in einem Dorf im Gebiet Tula für Ordnung, wo es im März zu den sogenannten „Zigeuner-Aufständen“ kam / RIA Novosti

Wladimir Putins Erlass zur Schaffung einer Nationalgarde samt der sie kontrollierenden Behörde „Rosgwardija“ am 5. April kam überraschend und führte zu den üblichen Reflexen im kritischen Teil der Öffentlichkeit: Spekulationen zu den Motiven, Sorgen über die Konsequenzen und Zweifel an der Umsetzung. Will der Kreml damit nur von den „Panama-Enthüllungen“ ablenken? Bereitet er sich auf zu erwartende Unruhen nach den Duma-Wahlen im Herbst vor? Ist „Putins Privatarmee“, wie die neue Behörde zuweilen genannt wird, ein weiterer Schritt in eine offene Präsidialdiktatur?

Anlass für solche Befürchtungen ist der Umstand, dass die neue Armee direkt dem Präsidenten unterstellt ist. Bisher gehörten die in Frage stehenden Milizen dem Innenministerium an: Vor allem geht es um dessen Bereitschaftstruppen (Truppen des Innern), die allein mit etwa 180 000 Mann so groß sind wie die gesamte Bundeswehr. Sie werden das Grundgerüst der Nationalgarde bilden, hinzu kommen noch die beiden kleineren Elitetruppen OMON und SOBR. Zwischen ihrem Befehlshaber und dem Präsidenten steht künftig kein Politiker mehr: Wollte der Präsident sie zum Beispiel gegen aufbegehrende Oppositionelle einsetzen, hätte bisher der Innenminister dagegen aufbegehren können und es käme zumindest zu Verzögerungen in der Befehlskette. Ob dieser Umstand allein die düsteren Prognosen rechtfertigt, ist aber fraglich: Die reguläre russische Armee ist dem Verteidigungsminister unterstellt, ein Umstand, der bisher nicht zu Zweifeln an Putins unbeschränkter Kontrolle über ihre Einsätze führte.

Offiziell hat der Kreml seinen großen Wurf nur sparsam begründet: Die Reform der inneren Sicherheitskräfte solle zu mehr Effizienz und Leistungsfähigkeit führen, sagte Putins Sprecher Dmitrij Peskow auf Nachfrage von Journalisten. Das russische Establishment versteht die Reform vor allem als eine Maßnahme im „Kampf gegen den Terrorismus“, der seit dem Beginn der Syrien-Kampagne in Russland immer mehr in den Vordergrund tritt. Gemäß dem Gesetzesprojekt, das bald von der Duma abgesegnet werden dürfte, gehört der nämlich zu den Aufgaben der Nationalgarde. Grob gesagt, kümmern sich dann nicht mehr Beamte und Polizisten um die Islamisten, sondern Soldaten einer Armee, mit all den Vorzügen, die ihr in Russland weithin zugeschrieben werden: bessere Moral, höhere Disziplin und eine geringere Anfälligkeit für Korruption als zum Beispiel bei der Polizei oder unter den Beamten insgesamt. Diese Einschätzung teilt zum Beispiel in der kremltreuen Zeitung „Wsgljad“ Anatolij Kulikow, der unter Jelzin sowohl Oberbefehlshaber der Truppen des Innern wie später auch der Chef des Ministeriums war. Das wichtigste Ziel der Reform sei, so Kulikow, „die neuen Bedrohungen einzuschätzen, die mit dem Terrorismus zu tun haben, mit dem, was wir in Westeuropa beobachten“.

Die neue Nationalgarde ist aber nur ein Teil der Reform der Sicherheitsdienste. Eine ihrer Nebenwirkungen ist zum Beispiel, dass die russischen Regionen künftig nicht mehr über ihre eigenen Streitkräfte im Rahmen der lokalen Innenministerien verfügen. Dabei richtet sich das Augenmerk der Beobachter vor allem auf die Republik Tschetschenien, deren Führer Ramsan Kadyrow dafür berüchtigt ist, über eine der schlagkräftigsten Truppen in Russland überhaupt zu verfügen. Die tschetschenischen Sondereinheiten sind künftig direkt der föderalen Behörde „Rosgwardija“ unterstellt und gehen in der gesamtrussischen Nationalgarde auf. Moskau kann damit die lokalen Truppen nach Belieben in ganz Russland rotieren lassen und Kadyrow gegenüber loyale Einheiten etwa nach Sibirien versetzen. Der Tschetschene hat Moskau zuletzt mehrmals verärgert: So drohte Kadyrow an, er werde föderale Einheiten bekämpfen, wenn diese in seiner Republik ohne Rücksprache Jagd auf Terroristen machten. Auch stehen Mitglieder ihm ergebener Spezialeinheiten unter Verdacht, für die Ermordung des Politikers Boris Nemzow verantwortlich zu sein.
Die neue Struktur der Nationalgarde erlaube jetzt eine elegante Säuberung von Kadyrows Truppen, erklärt der Jurist Pjotr Sajkin, der früher selbst in den Bereitschaftstruppen diente, in der Zeitung „Nowaja Gaseta“. Nach den Tschetschenienkriegen seien viele Kämpfer mit krimineller Vergangenheit in den republikanischen Verbänden aufgefangen worden. Jetzt eröffne sich eine Möglichkeit, sie auf „zivilisiertem Weg“ aus dem Verkehr zu ziehen, wenn die Soldaten in die neue Garde überstellt und dabei erneut auf ihre Eignung überprüft werden – ohne Mitspracherecht in Tschetschenien. Weil das Gesetz zur Nationalgarde eine Übergangszeit von anderthalb Jahren vorsehe, könnten viele problematische Fälle gesichtswahrend, etwa über eine großzügige Pensionierung, gelöst werden, so Sajkin.

Die neue Behörde „Rosgwardija“ wird aber nicht nur die militarisierten Abteilungen des Innenministeriums übernehmen. Zusätzlich soll die Kontrolle der diversen Sicherheitsdienste, einschließlich der Heerschar der privaten Wachmänner, zu den Kompetenzen der Behörde gehören. Der oppositionelle Politiker Gennadij Gudkow, der sich einst beim Geheimdienst bis zum Oberst hochgedient hat, sieht in diesem Punkt sogar das Hauptziel der gesamten Reform, wie er dem Radiosender „Echo Moskaus“ sagte. Viele Veteranen der staatlichen Sicherheitsdienste würden gewöhnlich bei den Wachunternehmen Arbeit finden – es handle sich um mehrere Hunderttausend Mann. Gerade in Krisenzeiten sei es für den Kreml wichtig, diese potenziellen Unruhestifter besser kontrollieren zu können, so Gudkow.

Außerdem soll die neue Behörde noch die Vergabe von Waffenscheinen ausüben und somit den Bestand an Waffen im Privatbesitz unter Kontrolle halten. Diese bisherige polizeiliche Aufgabe wird „Rosgwardija“ aber kaum ohne eigene lokale Vertretungen ausüben können – ein Netz von Büros fast in jeder Stadt des Landes würde die Struktur entgegen ihrem ursprünglichen Ziel der höheren Effektivität auswuchern lassen, so Kritiker.

Eine weitere Nebenwirkung der neuen Armee dürften alle Russen und viele Ausländer zu spüren bekommen: Zwei bisher eigenständige föderale Behörden, die für Migration und Drogenkontrolle, werden in das Innenministerium eingegliedert. Mit Ausländern und Drogen hätte ohnehin die Polizei am meisten zu tun, so wohl die Logik dahinter. Eine Zusammenlegung erlaube es, Personal einzusparen. Insbesondere die Abwicklung der Migrationsbehörde FMS wird von vielen kritisch gesehen: Wer sich in Russland an seinem Wohnort registrieren lassen will, einen neuen Reisepass beantragt oder sich als Ausländer um eine Arbeits- beziehungsweise Aufenthaltserlaubnis bemüht, bekommt es künftig mit „Menschen in Uniform“ zu tun. Unter der Zuständigkeit der eigenständigen zivilen Behörde gab es einige Fortschritte, vor allem was den Umgang mit der Bevölkerung betrifft. In der riesigen Struktur des Innenministeriums dürfte das sympathische Gesicht am Schalter nicht mehr zu den Prioritäten zählen.

Info

Die Armee-Behörde

Die neue Nationalgarde wird von der ebenfalls neuen föderalen Behörde („Föderaler Dienst“) „Rosgwardija“ koordiniert. Davon gibt es in Russland etwa 30, von denen die meisten den zuständigen Fachministerien untergeordnet sind. Einige sind dagegen direkt dem Ministerpräsidenten oder dem Präsidenten unterstellt. Zu letzteren gehören etwa die Geheimdienste, die Finanzaufsicht und nun auch die Nationalgarde. Ihr Direktor, der in eins auch Oberbefehlshaber der Truppen ist, hat den Rang eines Ministers.

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