Bei Buddhisten: Om im Ural

Der Buddhismus hat im asiatischen Teil Russlands eine lange Tradition, aber nicht im Uralgebirge. Eine derzeit siebenköpfige Gemeinde um einen Lama hat sich dort auf einem 800 Meter hohen Berg eingerichtet.

Die Buddhisten im Ural trotzen den widrigen Umständen. /Foto: Peggy Lohse

Wer große Schritte macht, kann nicht lange gehen“, schrieb im sechsten Jahrhundert vor Christus der chinesische Philosoph Laotse. Seine Weisheiten sollten später den Daoismus und den ostasiatischen Buddhismus prägen. Aber sie gelten auch heute. Auch im Uralgebirge.

Willkommen im Namen des Om

Dort erreicht man nur in kleinen, festen Schritten ein frei stehendes weißes Tor mit buntem Ziegeldach und bemalten Türflügeln am oberen Ende eines steilen Geröllfeldes. Ein Wachhund bellt am Wegesrand, als Besucher zwischen den bunt bewimpelten Stupas, den ersten buddhistischen Altären im Ural, und der Informationstafel ankommen.

Das „Om im Juwelen-Lotos“ begrüßt auf Sanskrit seine Gäste im Kloster Schad Tschup Ling. Dieses liegt auf dem Katschkanar, einem etwa 800 Meter hohen Berg in der Nähe der gleichnamigen Bergbaustadt im Gebiet Swerdlowsk, etwa 250 Kilometer nördlich von Jekaterinburg. Acht Kilometer Schotterstraße und Waldweg führen von den riesigen Tagebau-Gruben der Firma Evraz zum Kloster. 

Beten mit Weitblick / Foto: Peggy Lohse

„Es ist kein Kloster nach dem buddhistischen Kanon“, sagt Andrej Terentjew, Chefredakteur der Zeitschrift „Buddhism of Russia“. Dafür müsste es mindestens vier Mönche geben, erklärt Terentjew. „Aber unter den Dutzenden buddhistischen Klöstern in unserem Land finden sich wohl nicht einmal drei, in denen es vier Mönche gibt.“ Die Menschen in Schad Tschup Ling seien trotzdem echte Buddhisten, meint er. 

Wer dort ankommt, dreht dreimal die Gebetsmühlen an der Tafel und murmelt die sanskritischen Silben, die auf der Infotafel stehen. Damit wünscht man allen Lebewesen Befreiung aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten und sammelt positives Karma. „Schad Tschup Ling“ bedeutet Ort der Lehre und der Praxis.

Über zwei Tonnen schwerer Ural-Buddha

1995 begann der ehemalige Soldat Michail Sannikow als Lama Sanje Tensin Dokschit mit dem Bau der Anlage, genau zwischen dem Kloster Gunsetschoinej in St. Petersburg und Burjatien, wo sich das Zentrum des russischen Buddhismus befindet. Seitdem entstanden Wohn- und Gebetsräume, Werkstätten und Gästehäuschen. Die große Buddha-Statue ließ die Gemeinde in der Stadt gießen und brachte sie dann in drei Teilen mit Hilfe von Gästen auf den Berg. Der Ural-Buddha wiegt insgesamt immerhin über zwei Tonnen. 

Sannikow, Jahrgang 1961, stammt aus einer Offiziersfamilie aus dem Südural, trat in die Fußstapfen seiner Vorfahren und ging 1981 als Kommandeur einer Sabotage-Aufklärungstruppe nach Afghanistan. Bis er sich eines Tages aus Mitleid mit dem anvisierten Pferd dem Schießbefehl widersetzte und degradiert wurde. Da erfuhr er von einem alten Afghanen vom Buddhismus, hörte von Selbstdisziplin, Nirwana und dem Menschen als Ursache aller Leiden.

In den vergangenen Jahren entstanden Gebets- und Gästehäuschen. /Foto: Peggy Lohse

Er ging dann nach Burjatien und einige Zeit in die Mongolei, bevor er nach sieben Jahren den Titel des Lamas, des spirituellen Lehrers, erhielt. „Ich sagte meinem Lehrmeister, dass es im Ural auch gute Menschen gibt. Und der zeigte mir mit dem Finger auf einer Karte, wo ich ein Kloster aufbauen sollte“, erzählt er.

Im wichtigsten Versammlungsraum ist es kuschelig warm. Das lange Zimmer mit Steinofen, Kochecke und Bücherregal, mit kleinen Sitzkissen, niedrigem Tisch und allerlei buddhistischen Figuren dient zum Schlafen, Kochen, Essen, Lesen. Nebenan befindet sich ein Büro mit Computer und Telefon, beide mit instabilem Empfang und Internet, dahinter der Gebetsraum. 

Strukturierter Tagesablauf

Von sechs bis 23 Uhr ist der Tag durchstrukturiert: etwas Frühsport, gemeinsames Gebet, Frühstück, Arbeit, Teepause, Arbeit, Mittag, Arbeit, Lehre und Tee, Arbeit, Abendessen, Lehre und Praxis. Alle Aufgaben werden aufgeteilt.

Bei den Mahlzeiten kommt auch Fleisch auf den Tisch. „Wir halten uns hier nicht an die Askese“, erklärt Julia. „Das geht wegen der schweren Arbeiten hier oben nicht.“ Julia arbeitete früher als Ingenieurin, dann als Reiseführerin und Animateurin.

Buchweizen und Baumaterial

Seit über einem Jahr gehört sie zum Kern der Gemeinde. Häufig betreut sie die beinahe täglich eintreffenden Gäste. Besonders an Wochenenden kommen Gruppen, dann wird es schon manchmal eng. Um einen Anruf vorab wird gebeten, auch weil der Gast vielleicht etwas Nützliches mitbringen kann: Gemüse, Obst, Buchweizen oder Baumaterial, je nach Möglichkeit.

Mitte Oktober waren außer Lama Dokschit sieben Gemeindemitglieder auf dem Berg. Nicht jeder ist dem Kanon nach Buddhist. Viele kommen zunächst zu Besuch, später regelmäßig, dann bleiben sie und gehen irgendwann zur weiteren Lehre in die großen Dazane, die buddhistischen Klöster, im Osten.

Magischer Ort: Manche Gäste kehren immer wieder zum Kloster zurück. / Foto: Peggy Lohse

Jeder folgt seinem eigenen Weg, aber sie arbeiten für das gemeinsame Ganze. Sergej zum Beispiel ist fürs Holz, die Banja und das Füttern der fünf Hunde zuständig, die das Gelände vor wilden Tieren schützen. Dinara und ihre 13-jährige Tochter kümmern sich um den Haushalt.  Margarita leitet die Lese- und Erörterungsstunde am Nachmittag. „Wenn unser Gegenüber uns beneidet, so müssen wir diese Niederlage annehmen, ihm Recht geben“, heißt es im Lehrbuch.

Im Zentrum der buddhistischen Lehre steht das Erdulden, das „Mitleiden“, auch mit negativ gesinnten Mitmenschen. In diesem Sinne und um nicht noch mehr Staub aufzuwirbeln, enthält sich die Gemeinde auch jeden Kommentars zu den jüngsten Vorwürfen gegen sie. Ein Sturm braut sich zusammen, von dem man glaubte, dass er sich schon längst gelegt hätte. Streitpunkt ist die Frage um das Land, auf dem das Kloster steht.

Angst vor dem Abriss

Der Berg gehört der Evraz Group. Die Buddhisten behaupten, eben jenes Unternehmen behindere seit Anfang der 2000er Jahre all ihre Bemühungen, das Land zu erwerben. Bei gutem Wetter umkreisen regelmäßig Hubschrauber mit riesigen Metalldetektoren den Gipfel auf der Suche nach wertvollen Ressourcen. Seit 2012 droht der Konzern der Gemeinde, sie umzusiedeln und ihre Stupas abzureißen. Das käme einem Blutvergießen gleich, schrieben die Buddhisten damals in einem offenen Brief an „Buddhism of Russia“. So etwas gab es zuletzt in den Dreißigerjahren. 

Der Buddhismus hat in manchen Regionen Russlands eine lange Tradition, in Burjatien und Kalmückien ist er die am weitesten verbreitete Religion. Im Zuge der Stalinschen Säuberungen wurden die meisten buddhistischen Klöster geschlossen und die Bewohner hingerichtet.

Gutachten sorgt für Probleme

Der Konflikt im Ural schien eingefroren, wenn nicht gar beigelegt zu sein. Seit dem Urteil eines Moskauer Gerichts von Anfang 2016 war das Kloster offiziell in den Online-Reiseführer des Gebietes Swerdlowsk aufgenommen und damit seine touristische Bedeutung für die Region anerkannt worden. Auch der Gouverneur stellte sich hinter die Buddhisten. 

Vor wenigen Wochen aber geriet ein angebliches Gutachten des St. Petersburger Religionsmuseum in Umlauf, welches der Gemeinde das Recht abspricht, sich als religiöse Gemeinschaft zu bezeichnen. Die Forderung nach Abriss wird erneut laut, das Unternehmen nennt mit Verweis auf gültige Gerichtsurteile als Frist noch diese Wintersaison.

Die Gemeinde schweigt dazu. Für sie stand zuletzt ein wichtigeres Ereignis an. Am 30. November feierte sie den Geburtstag ihres Lamas. Um es mit Laotse zu sagen: „Wer sich auf die Zehenspitzen stellt, kann nicht lange stehen.“ Erst recht nicht bei solchem Gegenwind.

Peggy Lohse

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