Der letzte Sommer von Mariental an der Wolga

Frieda Dercho war sechs Jahre alt, als die Sowjetführung in Moskau erklärte, dass den Wolgadeutschen, von denen auch sie eine ist, nicht zu trauen sei. Sie hätten „Abertausende Diversanten und Spione“ in ihrer Mitte nicht gemeldet und müssten, um Gefahr abzuwenden, umgesiedelt werden, hieß es in einem Erlass vom 28. August 1941. Dercho kam mit ihrer Familie in den Altai und sah ihr Dorf Marien­tal erst nach dem Ende der Sowjetunion wieder. 75 Jahre nach der Deportation blickt sie für die MDZ zurück.

Frau Dercho, Sie leben heute in Deutschland und sind Vorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in Osnabrück. Was ist Ihnen aus jenem Sommer 1941 im Gedächtnis geblieben, als das Präsidium des Obersten Sowjets am 28. August die Deporta­tion der Wolgadeutschen nach Sibirien und Kasachstan beschloss?

Ich erinnere mich, dass die Getreideernte besonders reich ausfiel und mein Vater, der als Mechaniker in der Kolchose Nummer  3 „Oktoberrevolution“ arbeitete, schon um vier Uhr morgens auf dem Feld war. Wir Kinder haben Beeren gesammelt und im Großen Karaman gebadet, der damals noch ein richtiger Fluss war und keine solche Pfütze wie heute. In Sichtweite standen Kamele, die als Nutztiere gebraucht wurden, zu denen wir aber Abstand halten sollten.

Mariental

Sowjetskoje in der Region Saratow: So sieht das frühere Mariental heute aus. / Tino Künzel

Wie hat die Nachricht von der Räumung der wolgadeutschen Autonomie Ihr Dorf Mariental erreicht?

Als wir draußen auf dem Feld waren, ist ein Mann aus unserem Dorf ganz aufgeregt mit dem Fahrrad angekommen und hat mit der Zeitung gewedelt. So haben wir von dem Erlass erfahren. Da war das Wehklagen groß. Die Männer haben trotzdem die Feldarbeit zu Ende gebracht, wie sich das gehörte. Bis zum Abend waren dann schon Soldaten angerückt. Und die Einheimischen haben in einem großen Kreis gebetet, dass unser Abschied von Mariental nur ein vorübergehender sein möge.

Die Sowjetmacht war zu diesem Zeitpunkt längst gegen die Religion als „Opium des Volkes“ vorgegangen. Sind Sie wirklich sicher, dass in Mariental gebetet wurde?

Auch unsere Kirche war seit den 30er Jahren kein Gotteshaus mehr. Manchmal nahmen mich die Älteren mit, wenn man dort Filme zeigte. Aber heimlich wurde trotzdem gebetet und sogar getauft. Wir haben auch vor dem Abendessen ein Gebet gesprochen. Die Generation unserer Eltern war um das Jahr 1900 geboren und mit dem Glauben aufgewachsen. Der ließ sich nicht einfach abschaffen.

Was haben Sie von den Erwachsenen gehört, wann man wieder zu Hause zu sein hoffte?

Nach dem Krieg. Es blieb ja alles wohlgeordnet zurück. Man hat noch nicht einmal die Häuser verschlossen. Als ich meinen Vater gefragt habe, ob ich unsere Katze namens Schuh mit auf die Reise nehmen dürfte, da hat er mir geantwortet: „Die muss hier Mäuse fangen und die Lebensmittel bewachen.“

Ihre letzten Eindrücke von Mariental?

Am 8. September 1941 sind wir in einer langen Reihe von Fuhrwerken zum Bahnhof aufgebrochen. Am Friedhof hat die Kolonne noch einmal angehalten. Die Menschen sind abgestiegen, haben sich von ihren Vorfahren verabschiedet, sich bekreuzigt, geweint. Das war die schwerste Stunde, so etwas vergisst man sein ganzes Leben nicht.

Wussten Sie, wohin es nun gehen sollte?

Nein. Wir waren drei Wochen in Viehwaggons unterwegs, bis unsere Familien auf Dörfer in der Altai-Region verteilt wurden. Dort bin ich dann zur Schule gegangen, habe schnell Russisch gelernt. Bis dahin sprachen wir ja nur Deutsch. Nach der Schule bin ich Lehrerin geworden, 1964 mit meinem Mann nach Krasnojarsk gezogen und 1990, als sich die Hoffnungen auf eine Wiederherstellung der deutschen Wolgaautonomie zerschlugen, nach Deutschland übersiedelt.

Kürzlich waren Sie Ehrengast bei der 250-Jahr-Feier von Sowjetskoje, wie Mariental heute heißt.

Das war bereits mein siebenter Besuch dort. Beim ersten, 1997, hat man mich noch relativ feindselig empfangen. Doch inzwischen ist da eine Brücke der Freundschaft entstanden. Ich sage immer: Mein Volk hat keine Schuld an dem, was passiert ist, und euer Volk auch nicht. Die einfachen Leute verstehen sich immer. Nur die Politik spielt oft ein falsches Spiel.

Wie viel Mariental ist in Sowjetskoje erhalten geblieben?

Mariental war ein schönes Dorf. Wenn man sich anschaut, was daraus geworden und wie viel verfallen ist, das tut oft weh. Was ich in den letzten Jahrzehnten mit eigenen Augen sehen konnte, ist der Zustand auch immer schlechter geworden. Aber jetzt hat der Ort eine Bürgermeisterin, die sehr engagiert ist. Ich hoffe, dass sie etwas erreichen kann.

 

Das Interview führte Tino Künzel.

 

 

Dem „kleinen Europa“ auf der Spur

Studenten aus drei Ländern besichtigten deutsches Erbe

Von Vera Awtonomowa sagt man in Sowjetskoje mit gutmütigem Unterton, sie habe an den Deutschen „einen Narren gefressen“. Die Rentnerin leitet das deutsche Kulturzentrum im Ort und weiß alles über die Geschichte der zwei Busstunden von Saratow entfernten ehemaligen deutschen Kolonie. Neulich hat sie wieder einmal Gäste im früheren Mariental herumgeführt: junge Leute, die sich im Rahmen eines russisch-ukrainisch-deutschen Austauschprojekts unter dem Titel „Wir erinnern uns“ auf die Spuren der Wolgadeutschen begaben. Organisiert vom Jugendring der Russlanddeutschen, besuchten die Teilnehmer der Begegnung die Orte Marx (Katharinenstadt), Sorkino (Zürich) und eben Sowjetskoje, besichtigten deren deutsches Erbe, sprachen mit Einwohnern und verarbeiteten ihre Interviews zu einer szenischen Lesung.

Mariental

Die Jugendgruppe vor der einstigen katholischen Kirche von Mariental, die 2000 ausbrannte. Davor diente sie als Kulturhaus. / Tino Künzel

Die Geschichtsstudentin Ale­xandra Browkina aus Donezk fuhr mit der Erkenntnis zurück, die Wolgadeutschen hätten seinerzeit ein „kleines Europa“ in Russland aufgebaut, bis sie „wie Vieh vertrieben“ worden seien, ohne dass die Gerechtigkeit je wiederhergestellt worden wäre. Jurastudentin Jekaterina Astachowa aus Saratow spricht von einer „großen Tragödie für die deutschstämmige Bevölkerung an der Wolga und nicht nur für sie“. Den Slawistikstudenten Stefan Krumbeck aus Greifswald hat beeindruckt, wie rührig sich die heutigen Ortsansässigen von Sowjetskoje mit der deutschen Vergangenheit des Dorfes beschäftigen: „Man sieht die Begeisterung in den Gesichtern. Und das ist nicht irgendein staatlich gefördertes Programm, sondern eigenes Interesse.“   tk

 

Mit Gottes Segen

Die evangelisch-lutherische Kirche im Zentrum der Kreisstadt Marx an der Wolga war lange ein Denkmal des sowjetischen Umerziehungsexperiments. 1956 wurde ihr Glockenturm kurz und klein gemacht, er passte nicht mehr zur neuen Bestimmung des Sakralbaus als Arbeiterklub. Doch inzwischen nimmt die Kirche von der traurigen Gestalt wieder die Form an, in der sie 1846 eröffnet wurde. Viktor Schmidt, Unternehmer aus Saratow, hat den Wiederaufbau des Kirchturms finanziert. Jetzt holte der Mäzen, der aus einer wolgadeutschen Familie stammt und in der Deportation im kasachischen Karaganda geboren wurde, mit Ehefrau Anna auch die kirchliche Trauung nach. Für die Gemeinde der lutherischen Kirche, die nur etwa zwei Dutzend Mitglieder zählt, war das ein großes Ereignis.   tk

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: