25 Jahre Ende der Sowjetunion: Sehnsucht nach einem Lebensgefühl

Am 8. Dezember 1991 besiegel­ten die Präsidenten Russlands, Weiß­­russlands und der Ukraine mit einem Vertrag das Ende der Sowjetunion. Aber auch 25  Jahre später sind die Russen mit dem verflossenen Staat längst nicht fertig. Nur ist es nicht die Sowjetunion Lenins, sondern die von Wyssozkij, die vielen nach wie vor am Herzen liegt.

Sowjetunion

Handschrift einer Utopie: Wandbild am Kosmonautenmuseum in Moskau. / Tino Künzel

Es hat etwas Tragikkomisches, wenn die Einwohner des größten Landes der Erde einem noch größeren Land nachtrauern, zu dem es einst gehörte. Nachgetrauert wird gern und oft, das lässt sich sogar quantifizieren. Nach einer aktuellen Umfrage des Lewada-Zentrums bedauern 56 Prozent der Russen den Zerfall der Sowjet­union. 51 Prozent glauben, er wäre zu vermeiden gewesen.

Das deckt sich damit, was der Ausländer aus Zufallsgesprächen mitnimmt, wenn er in Russland durch die Lande fährt. Und es steht in offensichtlichem Kon­trast dazu, wie im Baltikum mit der Sowjetvergangenheit abgerechnet wurde und das neuerdings in der Ukraine geschieht, hauptsächlich von oben. Die Balten haben es allerdings auch leichter, sich von etwas zu distanzieren, was ihnen aufgezwungen wurde. Die Russen haben sich ihre Gesellschaftsordnung dagegen selbst erschaffen, ein System, das im Namen der Menschheitsbeglückung monströse Verbrechen zugelassen und oft genug niederen Instinkten bei seinen Protagonisten Vorschub geleistet hat. Das aber auch gewaltige Kräfte mobilisieren konnte, um aus einem Agrar- einen Industriestaat zu machen, um Hitler zu stoppen, Volksbildung bis in den letzten Winkel zu tragen, in den Weltraum zu fliegen.

Aus dieser Geschichte mit all ihren Extremen Orientierung für die Zukunft zu schöpfen, ohne die Dinge auf einen einfachen Nenner zu bringen, ist in der Tat schwierig. Die Sowjetunion ist wirtschaftlich gescheitert und die kommunistische Heilslehre von der klassenlosen Gesellschaft nahm ihr am Ende auch niemand mehr ab. Als Obrigkeitsstaat hinterließ sie zudem ein riesiges Vakuum, als sie schließlich implodierte, und begünstigte so die Anarchie der 90er Jahre. Zeugt es also von einem Kurzzeitgedächtnis, wenn die Russen trotzdem ein mehrheitlich positives Bild dieser Epoche im Kopf haben?

Vielleicht auch das, allerdings haben sie weder den Gulag noch die leeren Läden vergessen. Sie stehen auch nicht wieder Schlange vorm Moskauer Lenin-Mausoleum und sind von ideologischem Fanatismus auf lange Sicht geheilt.

Was ihnen die Verhältnisse im Rückblick so verlockend erscheinen lässt, ist meist die eigene Lebenserfahrung der 70er und 80er Jahre: kaum soziale Unterschiede, ein sicherer Arbeitsplatz, ein bescheidenes Auskommen, Wyssozkij in der Küche und das Wir-Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein, einer „Idee“, wenn sie als Ideal auch an Glanz verloren hatte. Wer dann noch in Rechnung stellt, dass die Erinnerung schon deshalb vieles weichzeichnet, weil man eben jung war in jenen Jahren, und es eine Sehnsucht nach den „guten alten Zeiten“ letztlich auch anderswo gibt, der erhält die Gemengelage, die Russen Nostal­gie für die Sowjetunion empfinden lässt und die durchaus ernstgenommen zu werden verdient.

Sowjetwappen und Wechselstube. Dieses Foto aus St. Petersburg im Jahre 2000 zeigt, was viele Russen empfinden: Ein großer und mächtiger Staat wurde verramscht. / Tino Künzel

Sowjetwappen und Wechselstube. Dieses Foto aus St. Petersburg im Jahre 2000 zeigt, was viele Russen empfinden: Ein großer und mächtiger Staat wurde verramscht. / Tino Künzel

Nach einer begonnenen Aufarbeitung der vielen blinden Flecken der eigenen Geschichte in den späten 80er und frühen 90er Jahren hat sich die Konjunktur gedreht. Der Diskurs in der Wissenschaft und in den Medien geht weiter, doch große Teile der Öffentlichkeit scheinen in der Sowjetunion nicht mehr Reinigung zu suchen, sondern Identifikation. Von einer „Dekommunisierung“ ist Russland weit entfernt. Die Umbenennung von Straßen und Plätzen ist im Ansatz steckengeblieben. Wer die letzten 25 Jahre in einer Zeitschleife verbracht hätte, würde sich sofort wieder zurechtfinden.

Aber dahinter steckt keine Überzeugung, das ist einfach nur halbherzig. Den meisten Russen sind die Kirows, Kalinins und Schdanows, die bis heute in Tausenden Straßennamen verewigt sind, herzlich egal, wenn sie denn überhaupt wissen, um wen es sich handelt. Im Übrigen: Wer ihnen einen gestörten Umgang mit ihrer Vergangenheit vorwirft, sollte zunächst mal die eigenen Pauschalurteile hinterfragen. Die Sowjetunion quasi mit dem Dritten Reich gleichzusetzen, wie oft geschehen, setzt dem Erkenntnisgewinn enge Grenzen.

Wollen die Russen am liebsten die Sowjetunion zurück? Auch diese Frage hat Lewada gestellt. Nur 12 Prozent der Befragten antworteten mit Ja, so wenige wie noch nie bei der Umfrage, die seit 1993 durchgeführt wird. 2001 waren es noch 30 Prozent. Und auch die Sowjetnostalgie war schon bedeutend größer: Im Jahr 2000 gaben 75 Prozent an, den Untergang der UdSSR zu bedauern.

Die Einstellung der Russen zu ihrer Geschichte ist ambivalent und voller Widersprüche. Man darf gespannt sein, zu welchen Schlüssen sie im nächsten Jahr gelangen, wenn sich die Februar- und die Oktoberrevolution zum 100. Mal jähren. Speziell seit dem Maidan haben Revolutionen in Russland, zumindest den Staatsmedien nach zu urteilen, einen ganz schlechten Ruf.

Tino Künzel

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